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Vorfall in Grenzregion BrjanskKölner Hooligan drang in russisches Grenzdorf ein

Lesezeit 6 Minuten
Ein etwas verpixelt Screenshot zeigt Denis Nikitin in Kampfmontur. Nikitin gestikuliert in Richtung Kamera. Neben ihm hält ein Mann - ebenfalls in Militärkleidung - ein blaues Banner mit dem Logo des Russischen Freiwilligenkorps hoch.

Denis Kapustin, alias Denis Nikitin (links) wohl im Ort Ljubetschanje.

Ein russischer Neonazi, der in Köln-Chorweiler aufgewachsen ist, führt eine Gruppe von russischen Rechtsextremisten an, die für die Ukraine kämpft. Wie es dazu kam.

Denis Nikitin steht breitbeinig vor einem Gebäude in Ljubetschanje, einem russischen Grenzdorf nahe der Ukraine. Er trägt Kampfmontur, um seine Schulter baumelt ein Maschinengewehr. Rechts neben ihm präsentiert ein Mann der Kamera ein Banner des Russischen Freiwilligenkorps. „Heute haben wir endlich die Grenze zur Russischen Förderation überschritten. Hinter uns sieht man die Beweise“, sagt Nikitin auf Russisch und deutet auf ein Schild hinter ihm, das den Namen des Ortes zeigt.

Am Donnerstag überschlugen sich die Nachrichten aus der russischen Grenzregion Brjansk. Bewaffnete Männer drangen aus der Ukraine in das russische Staatsgebiet ein, laut dem russischen Geheimdienst wurden zwei Zivilisten getötet. Putin sagte eine Reise in den Kaukasus ab und sprach von einem „Terrorangriff“, die Ukraine weist jede Verantwortung von sich; in Kiew diskutiert man über eine „False Flag“ – einem von Russland orchestrierten Angriff auf das eigene Land, um Stimmung gegen die Ukraine zu machen.

Denis Nikitin: Jüdischstämmiger Russe, der in Köln-Chorweiler zum Neonazi wurde

In dem ganzen Chaos steht eines bisher fest: In dem Video aus Ljubetschanje, welches das Russische Freiwilligenkorps auf Telegram hochlud, spricht Denis Nikitin – Russischer Staatsbürger, Rechtsextremist, Kampfsportler, Hooligan und Kölner. Heute ist er der Kopf des Russischen Freiwilligenkorps und kämpft für die Ukraine.

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Nikitins Lebenslauf wirkt auf den ersten Blick mehr als skurril: Im Jahr 2001 zog der gebürtige Russe mit seiner Familie unter dem Namen Denis Kapustin nach Deutschland – als Kontingentflüchtling jüdischer Abstammung. Der NRW-Verfassungsschutz führt Denis Nikitin bis heute unter dem Namen Kapustin. Laut dem „Spiegel“ wuchs er in Chorweiler auf und knüpfte schon früh über die Hooligan-Szene Kontakte zu Rechtsextremisten. Nikitin gründete schließlich das Modellabel „White Rex“ und wurde zu einem bekannten Kopf der Neonazi-Szene in Deutschland. Wenn er sich nicht im Ring des Neonazi-Kampfsportevents „Kampf der Nibelungen“ prügelte, soll er für Freundschaftsveranstaltungen nach Moskau gereist sein.

Deutsche Sicherheitsbehörden entzieht Denis Nikitin 2019 die Aufenthaltserlaubnis

„Nikitin ist in erster Linie Rassist“, sagt Thomas Dudek, Osteuropa-Experte und Journalist. „Er propagiert einen Kampf der weißen Rasse gegen den Rest der Welt.“ Der Verfassungsschutz in Nordrhein-Westfalen schrieb 2019 in seinem Jahresbericht: Denis Nikitin trage maßgeblich dazu bei, die rechtsextreme Kampfsportszene zu professionalisieren.

Im Jahr 2019 griffen die Sicherheitsbehörden durch: Denis Nikitin verlor seinen unbefristeten Aufenthaltstitel in Deutschalnd, dazu wurde er mit einem Einreiseverbot in den gesamten Schengen-Raum belegt. Nikitin lebte fortan in Kiew, wo er sich auch vor dem Einreiseverbot überwiegend aufhielt. Es dauerte nicht lange, bis die Polizei und Staatsanwaltschaft auch in der Ukraine gegen Nikitin wegen krimineller Geschäfte Ermittlungen einleitete.

Wieso kämpft ein russischer Neonazi aus Köln für die Ukraine?

Mit Kriegsbeginn gründete Nikitin das Russische Freiwilligenkorps: Eine Gruppe russischer Rechtsextremisten, die für die Ukraine und gegen ihr Heimatland kämpfen. Das Freiwilligenkorps ist nicht als Teil der ukrainischen Armee oder der Nationalgarde anerkannt. „Es wird eher geduldet. Aus wohl falsch verstandenem Pragmatismus lassen die Ukrainer Nikitin und sein Korps aber für sich kämpfen“, sagt Dudek. Dafür, dass Nikitin offen von der Ukraine unterstützt wird gebe es keine Beweise. Seine Ausrüstung habe er sich über Spenden finanziert, so Dudek: Die Schutzweste lieferte beispielsweise ein Anhänger aus der Schweiz.

Thomas Dudek guckt in die Kamera. Er hat schwarz-graue Haare und einen schwarz-grauen Bart.

Thomas Dudek, Osteuropa-Experte und Journalist

Bei all dem bleibt die Frage: Wieso kämpft Nikitin, ein russischer Neonazi, der einige Ansichten Putins wie die Diskriminierung von queeren Menschen teilt, für die Ukraine? Thomas Dudek sieht in Nikitins Handeln eher einen Kampf gegen Russland als für die Ukraine. „Er verachtet die Ukraine als demokratischen und liberalen Staat.“ Doch Russland sei für Nikitin und seine Anhänger heutzutage ein unangenehmer Vielvölkerstaat, in dem viele Nationen und Ethnien leben, die man alle als Russen darstellen wolle. „Das ist für Denis Nikitin ein Albtraum. Sein Ziel ist ein Russland der weißen Slawen, das nach seiner Ansicht auch kleiner sein kann als die Russische Föderation in ihren heutigen Grenzen.“

Die deutschen Neonazis sind sich uneins, wem ihre Solidarität gilt

Der Fall Nikitin zeigt, wie gespalten die Neonazis in Deutschland auf den Krieg in der Ukraine blicken. Ein Teil der Szene positioniert sich offen pro-russisch, die andere Teil forderte Panzer für die Ukraine. Die rechtsextreme Szene in Nordrhein-Westfalen sei sich zwar einig, dass man die Folgen der Sanktionen gegen Russland wie die hohen Energiepreise und die Inflation instrumentalisieren solle, „um das politische System zu diskreditieren“, schreibt das nordrhein-westfälische Innenministerium auf Anfrage dieser Zeitung. „Allerdings ist nicht abzusehen, dass sie sich einigt, ob ihre Solidarität Russland oder der Ukraine gelten soll.“

Die rechtsextremistische Partei Der III. Weg positioniert sich laut dem Innenministerium offen gegen den russischen Angriffskrieg. Insbesondere die Ankündigung Putins, die Ukraine ‚Entnazifizieren‘ zu wollen, habe den III. Weg zu einer Solidaritätsaktion bewegt: Sie suchten nach kostenlosen Unterkünften für ukrainische Nationalisten und ihre Familien. Ein Anhänger des Dritten Wegs, der Solinger Neonazi Stephan K., reiste sogar ins Kriegsgebiet und kämpft heute auf Seite der Ukraine. K. ist nach Erkenntnissen des Verfassungsschutzes der einzige Rechtsextremist aus NRW, der in den Krieg zog.

Die Rechte und die NPD deuten den russischen Angriffskrieg dagegen als Krieg zwischen den USA und Russland um. „Dabei wird zumindest in Teilen das vom russischen Präsidenten Putin aufgegriffene Narrativ verbreitet, wonach das Agieren der NATO zu einer Eskalation beigetragen habe“, schreibt das Innenministerium. „Zugleich verdeutlichen beide rechtsextremistische Parteien, dass sie weder für die Ukraine noch für Russland Partei ergreifen wollen.“ Auch im völkisch-nationalistischen Teil der AfD werde der russische Angriffskrieg verharmlost.

Der rechtsextreme Verein „Aufbruch Leverkusen“ positioniere sich eindeutig im Sinne der russischen Regierung. „Seit Mai 2022 arbeitet der Verein intensiv mit dem Verein ‚Die Brücke zwischen Deutschland und Russland‘ zusammen und versucht die Narrative der russischen Regierung im Bezug auf deren Angriffskrieg zu verbreiten.“ Pro-russische Aktivisten des Vereins „Die Brücke zwischen Russland und Deutschland“ fuhren im Herbst in den Donbass und übergaben Hilfslieferungen an die russische Armee.

„Nikitin ist ein Geschenk für die russische Propaganda im Westen“

Dudek hält Nikitins Einmarsch in das russische Grenzdorf weder für eine von Russland orchestrierte „False Flag“, noch für einen von der Ukraine geplanten Angriff. „Nikitin ist ein Selbstdarsteller. Er wollte auf sich aufmerksam machen, er wollte zeigen: Seht her, liebe Sponsoren im Westen, wir sind noch aktiv.“ Es funktionierte. Die Zahl seiner Telegram-Follower hat sich innerhalb von 24 Stunden fast verdoppelt.

Ganz unwissend über Nikitins Einmarsch war Kiew trotzdem nicht, vermutet Dudek. „So ein Typ wie Nikitin wird mit Sicherheit vom ukrainischen Geheimdienst beobachtet. Ich persönlich halte es für unwahrscheinlich, dass der Geheimdienst nicht wusste, wo er gerade hingeht.“ Vermutlich, so Dudek, habe der Geheimdienst Nikitin nicht aufgehalten, weil sie so zeigen konnten, wie durchlässig und schlecht bewacht die Grenze auf russischer Seite war. „Die Ukrainer können sagen: Das ist ein Konflikt zwischen Russen und Russen. Die russische Seite spricht dagegen bis heute von einem ukrainischen Sabotageakt. Dass Nikitin und seine Kumpanen Russen sind, wird erst jetzt langsam thematisiert.“

Auch ohne „False Flag“ wird der Vorfall in Ljubetschanje vermutlich vor allem Russland helfen. Schließlich versucht Putin seit über einem Jahr, den Angriffskrieg mit einem angeblichen Neonazismus in der Ukraine zu rechtfertigen. Dabei schaffte bei den beiden ukrainischen Parlamentswahlen seit 2014 nur ein Abgeordneter pro Legislaturperiode den Sprung ins Parlament - trotz rechter Wahlbündnisse. „Da gibt es im Bundestag mehr fragwürdige Gestalten“, sagt Dudek. Mit Denis Nikitin ist nun jedoch ein Neonazi, wenn auch selber Russe, in russisches Terrorium eingedrungen. „Jemand wie Nikitin ist ein Geschenk für die russische Propaganda im Westen.“