Der Kölner Theologe Hans-Joachim Höhn erhält in Salzburg einen renommierten Wissenschaftspreis für sein Lebenswerk. Im Interview spricht er über Versagen im Erzbistum Köln und Zukunftschancen für das Christentum.
Kölner Theologe Höhn„Die Zukunft der Kirche entscheidet sich in der Stadt“
Herr Höhn, wir haben uns in Kolumba verabredet, dem Kunstmuseum des Erzbistums Kölns, sicher einer der schönsten Kirchen-Räume. Taugt Kirche heute nur noch als Museum – und umgekehrt?
Wäre die Kirche ein Museum wie Kolumba, wo Altes und Neues einander lebendig, produktiv, bisweilen auch konfrontativ begegnen, dann könnte ich mich mit diesem Gedanken anfreunden.
Wäre. Kirche ist aber nicht wie Kolumba?
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Zumindest nicht ausreichend. In einer Zeit des Schwunds und des Ausfransens an den Rändern scheut sie das Neue und glaubt, durch bloßes Bewahren des Althergebrachten identitätssichernd wirken zu müssen. Das geht zulasten der Vitalität und der Attraktivität.
Woran bemisst sich Vitalität? Traditionalistische Kreise trumpfen auf mit vollen Gottesdiensten, während „ganz normale“ Pfarrkirchen sonntagmorgens gähnend leer sind.
Gerade in Großstädten wie Köln unterliegt auch die Kirche den Gesetzen der Urbanität. Das bedeutet: Kampf um Aufmerksamkeit. Man muss dafür sorgen, das Stadtpublikum über die bloß zufällige Begegnung hinaus für sich zu gewinnen – mit Innovation, Irritation, Provokation. Ein vereinsmäßig organisiertes Gemeindemilieu schafft das nicht.
An Irritation und Provokation fehlt es im Erzbistum Köln unter Führung von Kardinal Rainer Woelki aber auch nicht gerade.
Deshalb sprach ich zusätzlich von Attraktivität. Was Kardinal Woelki treibt, verstärkt offensichtlich das Abrücken von der Kirche als Institution. Leider lässt man in Köln ja kaum eine Gelegenheit aus, gute Gelegenheiten auszulassen. Stattdessen schafft man immer neue Anlässe für schlechte Schlagzeilen. Angesichts der exorbitanten Austrittszahlen ist es zum Beispiel völlig unverständlich, dass es nichts gibt an vertrauensbildenden Maßnahmen, keine Initiative in Richtung derer, die der Kirche den Rücken gekehrt haben.
Warum passiert das nicht?
Weil die Institution und ihre Vertreter primär das Interesse der Selbstbestätigung verfolgen und sich radikalen Herausforderungen nicht mehr stellen wollen. Sie weichen auch der unangenehmen Frage aus, welche Plausibilität, welche Relevanz die christliche Religion und ein religiöser Lebensstil in unserer Zeit überhaupt noch haben. Es gehen doch längst nicht alle, die aus der Kirche austreten, nur aus Verdrossenheit und Ärger über Missbrauch und Missmanagement. Sondern weil es ihnen weder plausibel noch relevant vorkommt, sich religiös zu orientieren. Sie kommen gar nicht mehr auf den Gedanken, einem religiösen Gedanken nachzugehen.
Beim Schwund kirchlichen Lebens gibt es ein deutliches Stadt-Land-Gefälle, nicht nur in Köln. Das Christentum ist vor 2000 Jahren in den Städten entstanden und gewachsen. Verschwindet es jetzt aus den Städten?
Auf jeden Fall bleibt das Christentum auf dem Land nicht von dem verschont, was ihm in den Städten schon widerfährt. „Urbane“ Lebensstile und Praktiken – die nur punktuelle, selektive Bindung an Gruppen und Szenen, der schnelle Wechsel von Eintritt und Austritt – sind auf dem Land längst ähnlich ausgeprägt wie in den Städten. Das „platte Land“ ist nicht mehr Rückhalte- und Auffangbecken des traditionellen Katholizismus. Ich würde deshalb den Gedanken umdrehen und sagen: In den Städten entscheidet sich, ob Christentum und Kirche eine Zukunft haben.
Warum?
Weil sie hier auf engstem Raum herausgefordert sind und zugleich alle Chancen haben. Städte sind Laboratorien der Zukunft. Nirgends gibt es ein solches Reservoir an Talenten, Ideen und – auch das – an Geld, um Neues auszuprobieren.
Muss das Christentum, muss die Kirche überhaupt eine Zukunft haben? Oder anders gefragt: Wozu das Ganze?
Man könnte behaupten: Mit der sozialen Imprägnierung der Gesellschaft hat das Christentum seine historische Aufgabe erfüllt und darf jetzt getrost abtreten. Wo es eine soziale Grundsicherung gibt, ist man nicht mehr auf barmherzige Samariter angewiesen. Diese These hat durchaus etwas für sich. Aber auch wenn man sie bejaht, kann man im zweiten Schritt die Frage anschließen: Wo hat die Gesellschaft heute denn blinde Flecken, weiße Flächen, die niemand besetzt und auf denen für die Kirche auch wieder neue Relevanzerlebnisse möglich wären?
Relevanz hätte die Kirche dann wieder oder wieder neu als sozial-karitativer Player?
Im weitesten Sinne ja. Ich denke auch an den Bereich der kulturellen Diakonie: Was wäre eigentlich, wenn alles Spirituelle weg wäre, das Christentum und Kirche heute noch in die Gesellschaft einbringen? Die Taktung des Jahres etwa durch die religiösen Feiertage mit ihren Rahmen-Erzählungen. Käme die Gesellschaft ohne diese Taktgeber-Funktion aus dem Tritt? Geriete sie in einen monotonen Trott? Träte etwas anderes an die Stelle? Oder: Wie steht es mit der Grundidee des Christentums schlechthin? Dass es keine Verschiedenheit von uns Menschen gibt, die nicht umgriffen wird von einer je größeren Gemeinsamkeit. Vielleicht suchen wir das „entscheidend Christliche“ an der falschen Stelle, wenn wir meinen, es bestehe in der Unterscheidung, in den Differenzen zu „den anderen“. Mein Gegenvorschlag lautet: Das entscheidend Christliche liegt in der Bestimmung und im Festhalten dessen, was allen Menschen gemeinsam ist, was sie eint und verbindet.
Also, was die religiösen Feiertage betrifft, ist der Rahmen doch längst weggefallen. Weihnachten geht gut als Fest der Familie durch, Ostern als Frühlings- oder Hasenfest, Christi Himmelfahrt als Vatertag, Sankt Martin als Laternenfest. Wollen Sie sagen, die Gesellschaft käme damit nicht ganz prima klar?
Ich bin mir da nicht so sicher. Wer zum Martinstag am 11.11. einfach nur „mit seiner Laterne“ geht, der läuft „rabimmel, rabammel, rabumm“ leicht ins Leere. Ich glaube, es braucht eine starke Geschichte, eine packende Erzählung, die durch so einen Umzug in Szene gesetzt wird. Ihr religiöser Rahmen ist weit genug, um unterschiedlich gefüllt zu werden. Fallen solche Füllungen aber völlig aus diesem Rahmen, werden sie banal. Nebenbei: Es gehört zur Freigebigkeit des Christentums, dass andere die Möglichkeit haben, religiöse Feiertage auch säkular zu begehen. Sie können Weihnachten eben auch als Fest der Liebe oder des Friedens feiern.
Da ist es, das Wort „säkular“. Es markiert ja ein Gegenüber zu „religiös“. Aber stimmt das überhaupt? Ist eine „säkulare Gesellschaft“ wirklich „nicht religiös“? Oder entwickelt und pflegt sie womöglich nur andere Formen des Religiösen?
Zunächst einmal ist „säkular“ tatsächlich ein Containerbegriff für alle möglichen Entkopplungen von Religion und Gesellschaft geworden. Die Religionssoziologie fasst ihn deshalb nur noch mit spitzen Fingern an. Der Begriff ist heute mit einer Problemanzeige verbunden: Wer meint, das Verschwinden des Religiösen aus dem Leben der Gesellschaft und des Einzelnen setze sich ungebremst fort, verkennt die Widerspenstigkeit der Religion und religiöser Traditionen. Die Mehrheitsgesellschaft wird sich darauf einstellen müssen, dass ihr diese widerspenstigen Erscheinungen noch eine ganze Weile erhalten bleiben. Erst recht unter den Bedingungen verstärkter Migration. Durch sie wird das religiöse Moment für viele Zeitgenossen unerwartet und neu zu einem eigenen Identitätsmarker. Das verlangt im Grunde auch nach neuen Arrangements zwischen religiös und nicht religiös grundierten Lebensformen.
Wofür dann die Stadt mit ihrer Pluralität wiederum ein gutes Experimentier- und Exerziergelände wäre?
Genau. Seit Jahrhunderten macht die Stadt das Angebot: „Wer Vielfalt sucht, ist hier am rechten Ort. Pluralität gehört zur DNA des Stadtlebens. Auch wenn du anders bist, kannst du hier Heimat finden.“ Weil es in der Stadt ohnehin nur Minderheiten gibt, kann jeder die eigene Identität in der Differenz, in der Abweichung von den anderen leben.
Dann ist aber das Verbindende doch nicht mehr jenes Entscheidende, was Sie vorhin als Wesensmotiv des Christentums ausgemacht haben.
Es geht um eine Anerkennung von Verschiedenheit, die nicht zur Ausrede für fehlende Solidarität wird. Man muss auch im Blick haben, dass die Stadt neben ihrer Anziehungskraft auch enorme Fliehkräfte entwickeln kann. Sprechendes Symbol für diesen Doppeleffekt ist die Fußgängerzone: Nirgends treffe ich auf so engem Raum in so kurzer Zeit auf so viele Menschen. Und nirgends sonst gelingt es mir, so wenig mit ihnen zu tun zu haben. Ein Schritt nur, eine kleine Beschleunigung, und ich habe sie hinter mir. Oder: Ich stehe vor einem Schaufenster mit Luxusgütern und darunter sitzt einer, der mir den Hut für einen Euro entgegenhält. Das ist das Doppelgesicht, die Ambivalenz der Stadt. Das Glück liegt auf der Straße, aber da landen auch die, die vergeblich nach ihm gesucht haben. Ich fürchte, auch durch das Raster der Grundsicherung fallen noch zu viele Menschen. Und ich hoffe, es finden sich auch in Zukunft Christen, die sie auffangen.
Also wieder ein sozial-karitatives Moment als Existenzberechtigung. Worin liegt eigentlich für Sie persönlich die Relevanz des Christlichen? Wo finden Sie in Ihrem Leben die Spuren des Göttlichen, „die nicht verwischen“, wie Sie es einmal formuliert haben?
Je älter ich werde, desto mehr beschäftigt mich eine Frage, die man im Futur II stellen kann.
Die „Zeitform der vollendeten Zukunft“ – das ist was für Grammatik-Freaks.
Dabei ist es eigentlich ganz einfach. Wenn ich heute aus der Perspektive der Zukunft auf mein Leben schaue, kann ich fragen: Wird es einen Unterschied machen, ob es mich gegeben hat, oder nicht? Lautet die Antwort nein, dann stellt sich sofort die Frage: Wenn es in Zukunft keinen Unterschied machen wird, dass es mich gegeben hat, welchen Unterschied macht es dann heute?
Oh, jetzt wird’s heikel!
Eben. Ich glaube, in einer Zeit, in der sich der Sinn des Lebens um die Begriffsfelder von Anerkennung, Geltung, Wertschätzung gruppiert, gibt es keine bedrängendere Frage als die nach der Bedeutsamkeit der eigenen Existenz. Keiner von uns will als Nichts und Niemand gelten. Jeder möchte, dass sein Leben „einen Unterschied macht“. Ich auch. Aber wenn sich in Jahrzehnten niemand mehr meiner erinnert; wenn mein Grabstein längst abgeräumt ist; wenn meine Bücher aus den Bibliotheken ins Depot geschafft sind und für die nächste Digitalisierungsrunde nicht mehr berücksichtigt werden; wenn also die letzten Spuren meines Lebens getilgt sind – dann macht es wirklich keinen Unterschied mehr, ob es mich gegeben hat oder nicht.
Und jetzt sagen Sie: Gott macht den Unterschied?
Dass es mich gibt oder dass es Sie gibt, ist erstmal eine Realität. Und jetzt sagen wir: Wenn das heute wirklich wahr ist, dann muss es für alle Zeiten wahr sein. Auch in ferner Zukunft wird es mich gegeben haben. Aber genau genommen, ist das nur für ein Bewusstsein wahr, dass das denkt. Damit sind wir dann schon sehr nah am Gottesgedanken. Der Gottesgedanke könnte für ein Bewusstsein stehen, das um der Wahrheit willen festhält: Es hat mich gegeben. Dass ich kein Nichts und Niemand gewesen bin, wird für alle Zeit wirklich wahr sein.
Da muss man sich aber ganz schön hinein-denken…
Ich hätte noch eine „Spur des Göttlichen“. Vielleicht finden Sie die leichter.
Nämlich?
Ich kenne keinen Menschen, der nicht dann und wann getröstet werden möchte.
Spätestens seit Ludwig Feuerbach und Karl Marx ist „Trost“ im religiösen Kontext eine schwierige Sache.
Die Warnung der Religionskritik vor Vertröstung ist auch berechtigt. Aber Trost suchen heißt ja: Ich kann mich nicht abfinden mit dem, wofür es keine Abfindung gibt. Ich suche nach einem trotzigen Ja in Situationen, in denen alles Nein schreit. Angesichts des Unannehmbaren geht es um einen Grund, mich und mein Leben trotzdem anzunehmen. Das ist der Kern eines religiösen Verhältnisses zum Dasein. Es stellt eingefleischte Daseinsskeptiker vor die Frage: Gibt es in unserem Leben irgendetwas, was nicht wieder schlecht gemacht werden kann? Wenn ja, warum sollte man ein solches Leben dann rundheraus ablehnen? Diese Spannung – das Unannehmbare annehmen und nicht schlecht reden, was unverbesserlich gut ist – lässt sich für mich nicht anders bewältigen als in einem religiösen Daseinsentwurf.
Spezifisch christlich ist das nicht. Was käme dafür noch hinzu?
Als Christ frage ich: Kann mir mein Glaube gute Gründe dafür angeben, ein Leben anzunehmen, das geprägt ist vom Widerstreit zwischen dem, was ohne Wenn und Aber abzulehnen ist, und dem, was ohne Abstriche gut und beglückend ist?
Und, kann Ihr Glaube das?
Tja… Vielleicht sind wir – auch in der Theologie – zu zaghaft geworden. Wir haben uns nicht mehr damit beschäftigt, worin das Tröstliche im Christentum liegen könnte, wenn die Erfahrung des Unannehmbaren überwiegt. Und wir haben nicht ausreichend bedacht, dass alle Versuche, die Welt annehmlich zu gestalten, von einem Vorschuss zehren: Die Welt muss zumindest so gut sein, dass sie es wert ist, verbessert zu werden. Die Frage nach Gott „im Angesicht des Leids“, die „Theodizee“, haben wir zu einer nachgelagerten Frage gemacht und in der religiösen Erziehung nur gesagt: Gott ist lieb, die Erde ist schön. Umso größer ist dann das Erschrecken, dass wir das irgendwann gemeinsam mit den Kindern dementieren müssen.
Weil es nicht stimmt?
Weil die Reihenfolge falsch ist. Am Anfang eines religiösen Daseinsverhältnisses steht die Empörung über das Unannehmbare und die Auflehnung gegen eine Haltung, dies einfach hinzunehmen.
Sie propagieren in Ihren neuesten Büchern die „Kunst poetischer Gottesrede“, die auf dichterische Formen und besonders auf Aphorismen setzt. Trauen Sie als Theologe der eigenen Profession und Ihren dicken Büchern selbst nicht mehr?
Mir ist zunehmend die Wahrheit eines Gedankens von Ludwig Wittgenstein aufgegangen: Was nicht in kurze Sätze passt, ist nicht der Rede wert. Die große Schwäche von Leuten, die in der Religion das Sagen haben, ist ihre Neigung zur Geschwätzigkeit, zu Geschwafel und Geschwurbel. Demgegenüber führt ein aphoristischer Denk- und Sprachstil dazu, dass man sich selbst diszipliniert und die Leute mit seinem Reden nicht langweilt, nervt oder auf die Folter spannt.
Ihr Lieblingsaphorismus zur Lage?
Ich habe drei. Suchen Sie sich einen aus! Wer alle durchschaut, bekommt niemanden zu Gesicht. – Der Glaube versetzt Berge, die Vernunft besteigt Gipfel. – Gott ist Luft für dich? Bitte tief einatmen!
Zur Person
Hans-Joachim Höhn, geb. 1957, war von 1991 bis 2023 Professor für Systematische Theologie und Religionsphilosophie an der Universität zu Köln. In seiner Arbeit hat Höhn wesentliche Beiträge zur Vermittlung von Aufklärung und Christentum, Vernunft und Glaube geleistet. Kirchenpolitisch ist er mit scharfer Kritik an den fragwürdigen, intransparenten Unbedenklichkeitserklärungen des Vatikans („Nihil obstat“) für Theologinnen und Theologen hervorgetreten, die an staatlichen Universitäten eine Professur übernehmen wollen. Für sein Lebenswerk wird Höhn am 31. Juli in Salzburg mit dem renommierten „Theologischen Preis der Salzburger Hochschulwochen“ geehrt. (jf)