Wer die Zustimmung zur Organspende generell vermutet und Ängste mit Druck beantwortet, riskiert unerwünschte Reaktionen, meint Steven Geyer.
Kommentar zur OrganspendeDer Vorstoß zur Widerspruchslösung ist übergriffig
Wie viel Druck darf der Staat auf alle seine gesunden Bürger ausüben, um die wenigeren, aber lebensgefährlich erkrankten Bürger zu retten? Das ist die Frage, auf die die erneute Debatte zur Reform der Organspende hinausläuft, die eine parteiübergreifende Abgeordnetengruppe fast aller Bundestagsfraktionen jetzt anstoßen will.
Könnten sie die von ihnen vorgeschlagene „Widerspruchslösung“ durchsetzen, dann würde in wenigen Jahren jeder Erwachsene in Deutschland nach seinem Tod automatisch als Organspender infrage kommen, der sich nicht anders geäußert hat – wobei rein medizinisch ohnehin nur 2 Prozent dafür geeignet sind. Die Wahrscheinlichkeit, selbst betroffen zu sein, ist also extrem gering.
Verweigerer der Organspende könnten trotzdem Empfänger bleiben
Wer es für sich dennoch ausschließen will, dass seinem toten Körper Herz, Niere oder Leber entnommen werden, um einem Fremden das Leben zu retten, könnte zu Lebzeiten einfach widersprechen: Sobald der Widerspruch schriftlich hinterlegt ist, scheidet man als Organspender aus.
Als Empfänger übrigens nicht, sodass in Deutschland viele der knapp 3000 Todkranken, die pro Jahr gerettet werden, von einem Organ profitieren, das sie selbst nicht hergegeben hätten – auch von Spendern im EU-Ausland, wo die Widerspruchslösung bereits gilt. In diesem Punkt haben deren deutsche Befürworter recht: Viele Deutsche nehmen eine Großherzigkeit in Anspruch, der sie sich selbst verweigern.
Staat ist sowohl für Schutz der gesunden als auch kranken Bürger verantwortlich
Das Ergebnis: Während derzeit rund 8400 schwer kranke Patienten auf ein lebensrettendes Organ warten und an jedem Tag drei von ihnen versterben, haben im vorigen Jahr keine tausend Menschen nach ihrem Tod ein Organ gespendet. Das ist eine im internationalen Vergleich beschämend niedrige Zahl.
Und tatsächlich ist der Staat aber nicht nur für die Unversehrtheit und Selbstbestimmtheit seiner gesunden Bürger verantwortlich, sondern auch für den Schutz der Kranken – auch da haben die Abgeordneten recht, die die aktuelle Rechtslage umkehren wollen. Denn im Moment ist nur automatisch Spender, wer das zuvor bekundet hat oder wessen Hinterbliebene das als Willen des Verstorbenen annehmen. Von den Angehörigen aber ist eine solche Entscheidung in einer so traumatischen Lage zu viel verlangt.
Mit dem Vorstoß will man „die Trägheit der Menschen“ überwinden
Und doch hat der erneute, inzwischen von einer noch größeren politischen Breite an Angeordneten getragene Vorstoß etwas Übergriffiges. Zwar ist es richtig, dass man jedem Bürger zumuten kann, sich einmal im Leben mit dieser Frage zu befassen und eine Entscheidung zu treffen.
Wer aber ein Schweigen als Zustimmung auslegt, will schlimmstenfalls die Nicht-Informierten für den guten Zweck ausnutzen – und selbst bestenfalls noch den Entscheidungsdruck auf jene erhöhen, die sich vor einer Entscheidung drücken möchten. Das sagt die Gruppe hinter dem neuen Vorstoß auch mehr oder weniger offen: Mit der Drohung, dass Untätigkeit zum womöglich unerwünschten Ergebnis führt, will man „die Trägheit der Menschen“ überwinden.
Mehr Druck ist keine Lösung
Doch egal, wie irrational die Ängste dieser Menschen sind: Es wäre gefährlich, wenn der Staat sie mit Druck beantworten würde – selbst wenn es um das zweifellos humanitäre Anliegen geht, die Gesundheit der Gefährdeten unter uns zu retten. Denn als der Staat das zum letzten Mal versuchte, indem er mit Impfpflichten drohte und Ungeimpfte sanktionierte, erntete er am Ende nicht die Solidarität und Weitsicht, die auch in der Frage der Organspende dringend nötig ist, sondern Ablehnung, Widerstand und gesellschaftliche Spaltung.
Die Lehre daraus ist: So beschwerlich der Weg auch sein mag, die Menschen davon zu überzeugen, das Richtige zu tun, wir müssen ihn gehen. Nichts spricht gegen die Pflicht, seinen Wunsch zu Lebzeiten zu Protokoll geben zu müssen, etwa durch eine Abfrage der Krankenkasse. Auch das wäre eine Neuerung.
Aber dabei muss die Antwort möglich sein, noch keine Auskunft geben zu wollen. Im Idealfall führt das Nachdenken über die Frage ja später zu einer anderen Entscheidung.