Die Chefermittlerin im Cum-Ex-Skandal fällt mit der Begründung für ihr Ausscheiden aus dem Amt auf Stammtischniveau.
Kommentar zu Anne BrorhilkerDas war kein guter Abgang, Frau Oberstaatsanwältin!
Während in Medienberichten über Strafprozesse Richterinnen und Richter häufig namentlich genannt werden, finden diejenigen eher selten Erwähnung, die mit ihrer Anklage vor Gericht den Strafverfolgungsanspruch des Staates geltend machen: die Staatsanwältinnen und Staatsanwälte.
Umso mehr fiel zuletzt auf, wie die Kölner Oberstaatsanwältin Anne Brorhilker, führende Ermittlerin im milliardenschweren Cum-Ex-Steuerskandal, im Zentrum einer bundesweiten Berichterstattung stand. Aber nicht etwa im Zusammenhang mit einem der spektakulären Strafverfahren zu diesem Skandal, sondern weil Brorhilker ihr Amt an den Nagel hängte, um zur spendenfinanzierten gemeinnützigen „Bürgerbewegung Finanzwende e.V.“ zu wechseln.
Die 50-Jährige tat dies medienwirksam, mit einem Paukenschlag. Im WDR gab sie zu Protokoll: Sie sei immer mit Leib und Seele Staatsanwältin gewesen, gerade im Bereich von Wirtschaftskriminalität. Aber sie sei überhaupt nicht zufrieden damit, wie in Deutschland Finanzkriminalität verfolgt werde. Oft gehe es um Täter „mit viel Geld und guten Kontakten“, die sich zu oft aus Verfahren herauskauften. Das führe zu dem Befund: „Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen.“ Wegen ihres so begründeten, freiwilligen Rückzugs wurde Brorhilker überschwänglich gefeiert.
Anne Brorhilker: Mutiger Schritt einer tapferen Frau?
Auf allen Seiten hieß es: Chapeau! Die Rede war vom mutigen Schritt einer tapferen Frau. Auch ich zolle Anne Brorhilker Respekt. Allerdings nicht wegen des Rückzugs aus dem Amt und ihrer Begründung, sondern allein wegen ihrer Leistungen als Ermittlerin. Brorhilker hat sich zweifellos große Verdienste um die strafrechtliche Aufarbeitung des größten Steuerskandals unseres Landes erworben. Sie hat zahlreiche bedeutende Verfahren zu einem rechtskräftigen Abschluss gebracht.
Sie hat sich der gängigen Praxis widersetzt, mit den Angeklagten einen „Deal“ zu schließen und die Strafverfolgung gegen Zahlung einer – im Verhältnis zum angerichteten Schaden deutlich geringeren – Geldbuße einzustellen. Dazu sage auch ich „Chapeau“. Kein Verständnis habe ich jedoch für die pauschalen, undifferenzierten Formulierungen, mit denen Frau Brorhilker ihren Rückzug als Oberstaatsanwältin im WDR begründet hat. Dass der Kampf gegen vermögende Wirtschaftskriminelle äußerst mühsam und frustrierend sein kann, ist nachvollziehbar. Darin unterscheidet er sich jedoch nicht wesentlich vom Kampf gegen andere betuchte Schwerstkriminelle. Auch deren gerichtliche Überführung ist meist mühsam und frustrierend.
Die Kriminalpolizei kann davon ein Lied singen. Als „Ermittlungspersonen“ der Staatsanwaltschaft machen Beamtinnen und Beamte der Kripo – oft unter Gefahr für Leib und Leben – solche Täter dingfest, um am Ende nicht selten erleben zu müssen, dass diese dank versierter Strafverteidiger auf der Basis teurer „Deals“ vergleichsweise glimpflich davonkommen. Brorhilker spricht jedoch nicht nur von Tätern „mit viel Geld“, sondern auch von solchen „mit guten Kontakten“.
Was genau sie damit meint, lässt sie offen. Damit lässt sie Raum für wilde Spekulationen und weckt Assoziationen an dunkle Machenschaften und Korruption. Solche Vorstellungen verstärkt sie noch, indem sie die Summe ihrer Erkenntnisse in der Redensart zusammenfasst: „Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen.“ Das ist nur mehr Stammtisch-Niveau. Und jedenfalls sind solche Worte aus dem Mund einer Oberstaatsanwältin Wasser auf die Mühlen all jener, die unserem demokratischen Rechtsstaat und seinen Einrichtungen den Kampf angesagt haben, unter ihnen die AfD. Brorhilker hat eine solche Formulierung gewählt, obwohl sie doch weiß, dass die von ihr beklagten Deals mit Wirtschaftskriminellen auf einer gesetzlichen Regelung der Strafprozessordnung (StPO) beruhen.
Gemäß Paragraf 257c StPO sind „Verständigungen zwischen Gericht und Verfahrensbeteiligten“ ausdrücklich zulässig, wobei das Prozessverhalten des Angeklagten eine Rolle spielt und ein Geständnis Bestandteil jeder Verständigung sein soll. Brorhilker weiß überdies, dass solche „Verständigungen“ häufig einem Personalmangel der Staatsanwaltschaft geschuldet sind, dass es mit anderen Worten an genügend Staatsanwälten fehlt, um komplexe Strafverfahren in vertretbarer Zeit ohne Deals erfolgreich zu Ende führen zu können.
Dieser Mangel ist nicht zuletzt auf „unattraktive Gehälter, marode Büros und veraltete Software“ zurückzuführen, wie dies die „Süddeutsche Zeitung“ jüngst formuliert hat. Dazu passend hat der nordrhein-westfälische Justizminister Benjamin Limbach (Grüne) Ende April die chronische Überlastung der NRW-Strafverfolger offen eingeräumt und von 242 000 nicht erledigten Ermittlungsverfahren gesprochen, die auf Halde liegen.
Der Berg, so Limbach, werde immer größer. Hier Abhilfe zu schaffen, gehört zu den Kernaufgaben eines Justizministers. Ihm obliegt es mit anderen Worten, für die Justiz und deren Interessen einzutreten und notfalls zu kämpfen, wenn es am Kabinettstisch um die Verteilung der Mittel auf die einzelnen Ressorts geht.
Das setzt Minister mit politischem Gewicht und Rückgrat voraus. Der von Limbach 2023 unternommene Versuch, die damalige Cum-Ex-Chefermittlerin Brorhilker zu entmachten und ihre Abteilung zu halbieren, scheiterte seinerzeit auf vielfachen Protest hin kläglich. Ob dieser politische Fehlgriff Brorhilkers Entschluss beflügelt hat, der Justiz den Rücken zu kehren, ist meines Erachtens nicht auszuschließen. Fest steht jedenfalls, dass ihr Abgang ein Beitrag zur Personalmisere bei den Staatsanwaltschaften ist – quantitativ, aber in Brorhilkers Fall vor allem auch qualitativ.
Michael Bertrams war Präsident des Verfassungsgerichtshofs für Nordrhein-Westfalen. In seiner Kolumne schreibt er über aktuelle Streitfälle sowie rechts- und gesellschaftspolitische Entwicklungen