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Krieg gegen die Ukraine: So ist die Lage

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Kiew/Moskau – Einen Tag nach den international verurteilten Raketeneinschlägen in der Hafenstadt Odessa hat Russland den Angriff eingeräumt und mit der Zerstörung von US-Waffen begründet. Die Raketen seien auf ein Schiffsreparaturwerk abgefeuert worden, teilte das Verteidigungsministerium in Moskau mit.

In dem Dock seien ein ukrainisches Kriegsschiff und ein Lager mit von den USA gelieferten „Harpoon”-Raketen zerstört worden, hieß es. Ungeachtet der Angriffe begannen Vorbereitungen zur Ausfuhr von Getreide aus Odessa. Russland ist vor fünf Monaten in die Ukraine einmarschiert.

Der Angriff am Samstagmorgen hatte international Entsetzen ausgelöst, weil Russland erst am Vortag in Istanbul eine Vereinbarung über die Ausfuhr von ukrainischem Getreide auch aus diesem Hafen in Odessa unterzeichnet hatte. Die Vereinbarung hat weiter ihre Gültigkeit.

Aus Sicht des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj hat sich Russland mit dem Raketenangriff bloßgestellt. „Wenn irgendjemand auf der Welt früher gesagt hat, dass es notwendig ist, mit Russland in Dialog zu treten, Vereinbarungen zu treffen über eine Waffenruhe, ohne unser Gebiet von den Besatzern zu befreien, dann haben die heutigen Raketen die Möglichkeit solcher Aussagen zerstört”, sagte er. Der Angriff sei ein Akt „offensichtlicher russischer Barbarei”.

Russland hatte am Freitag in dem Abkommen zugesichert, Schiffe für den Export über einen Seekorridor fahren zu lassen und nicht zu beschießen. Auch die drei beteiligten Häfen dürfen demnach nicht angegriffen werden. Es geht dabei unter anderem um die Ausfuhr von Millionen Tonnen Getreide. Die unter der Vermittlung der Vereinten Nationen und der Türkei unterzeichnete Einigung sieht vor, die Exporte von einem Kontrollzentrum in Istanbul überwachen zu lassen.

Ukrainische Häfen bereiten Ausfuhr von Getreide vor

Die ukrainischen Häfen begannen unterdessen mit der Vorbereitung der Transporte. Die Arbeiten für die Wiederinbetriebnahme der Häfen in Odessa, Tschornomorsk und Juschnyj seien im Gange, teilte die zuständige Behörde mit. Gemäß der Vereinbarung würden die Schiffsverbände für den Getreideexport vorbereitet, hieß es. Gebildet werde eine Karawane, die von einem Leitschiff angeführt werden solle. Die Behörde forderte Reedereien auf, ihre Schiffe dafür anzumelden.

Lawrow: Transport von Getreide wird abgesichert

Russlands Außenminister Sergej Lawrow bekräftigt, dass die internationale Einigung über die Ausfuhr von ukrainischem Getreide über das Schwarze Meer gültig ist. Die Passage über einen Seekorridor solle von einem Kontrollzentrum in Istanbul überwacht werden, sagte Lawrow bei einem Besuch in der ägyptischen Hauptstadt Kairo. Dort sollen Vertreter der Ukraine, Russlands, der Türkei und der Vereinten Nationen tätig sein. Russische und türkische Streitkräfte würden gemeinsam auf dem offenen Meer für die Sicherheit der Schiffe sorgen, sagte Lawrow.

„Und wenn die Schiffe in Richtung der ukrainischen Häfen fahren, um neue Lebensmittelladungen aufzunehmen, dann wird auch eine Kontrolle gewährleistet, die sicherstellt, dass niemand auf dem Weg in die ukrainischen Häfen Waffen dorthin bringt”, sagte Lawrow.

Selenskyj: Kampf für nationale Einheit vorrangige Aufgabe

Die Bewahrung der nationalen Einheit ist nach Ansicht von Präsident Selenskyj wichtigste Aufgabe der Ukrainer, um den Krieg zu gewinnen und Mitglied der EU zu werden. „Jetzt die Einheit zu bewahren, gemeinsam für den Sieg zu arbeiten, ist die wichtigste nationale Aufgabe, die wir zusammen bewältigen müssen”, sagte Selenskyj in seiner täglichen Videoansprache.

Wenn die Ukrainer dies schafften, werde ihnen gelingen, was Generationen vorher misslungen sei. Die Unabhängigkeit von Russland zu wahren, sich zu einem der modernsten Staaten der Welt zu wandeln und gleichzeitig den eigenen Weg Richtung Europa zu gehen, der nach Angaben Selenskyjs mit einer Vollmitgliedschaft in der EU enden wird.

Orban sieht Westen mit Russland-Strategie gescheitert

Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban sieht den Westen mit seiner Strategie gegen Russland gescheitert. „Wir sitzen in einem Auto mit vier kaputten Reifen”, erklärte der rechtsnationale Politiker. „Die Sanktionen erschüttern Russland nicht”, sagte er. Orban trug die Sanktionspolitik der Europäischen Union bislang mit, erzwang aber eine Ausnahmeregelung für russische Ölimporte.

5000 Soldatinnen kämpfen für Ukraine an der Front

In der ukrainischen Armee dienen laut Vizeverteidigungsministerin Hanna Maliar mehr als 50.000 Frauen, mehr als 5000 von ihnen seien derzeit an der Front. Das sagte die Politikerin nach Angaben der Nachrichtenagentur Ukrinform bei einem Gipfel in Kiew. Von den 50.000 Frauen im ukrainischen Militär dienten insgesamt 38.000 als Soldatinnen, die übrigen gingen zivilen Aufgaben nach.

Die US-Zeitung „Wall Street Journal” schrieb unter Berufung auf Äußerungen Selenskyjs, die ukrainische Armee verzeichne deutlich geringere Verluste als noch vor einigen Wochen. Selenskyj habe dem Blatt gesagt, dass derzeit pro Tag rund 30 Soldaten getötet würden - im Mai und Juni seien zwischenzeitlich 100 bis 200 täglich gestorben.

Ringtausch: Polen will mehr deutsche Panzer

Polen gibt sich mit der von Deutschland angebotenen Kompensation für die Lieferung von mehr als 200 Panzern sowjetischer Bauart in die Ukraine bei weitem nicht zufrieden. Verteidigungsminister Mariusz Blaszczak sagte, dass die Bundesregierung 20 Kampfpanzer vom Typ Leopard 2A4 liefern wolle, die erst in 12 Monaten einsatzfähig wären. Polen erwarte aber mindestens 44 Panzer, um ein Panzerbataillon ausstatten zu können.

Außenministerin Annalena Baerbock und Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (beide Grüne) räumten ein, dass die seit Monaten verfolgte Strategie des Ringtauschs zur Versorgung der Ukraine mit schweren Waffen nicht so funktioniere wie geplant. „Wenn dieser Weg nicht richtig war (...), dann müssen wir das natürlich reflektieren und schauen, wie wir dann anderweitig aktiv werden können”, sagte Baerbock in einem „Bild”-Interview.

Göring-Eckardt forderte die Bundesregierung auf, schon in den nächsten Tagen neue Wege zu prüfen. „Alternativen gehören auf den Tisch. Etwa, direkt Waffen zu liefern, wenn wir das können”, sagte sie dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). Sie wäre auch für direkte Panzerlieferungen, „wenn das schneller geht und wir oder andere Partner es können”.

© dpa-infocom, dpa:220724-99-135737/11 (dpa)