Evgenia Kulakova hält Öffentlichkeit trotz Zensur und Repressalien gegen Regimegegner in Russland für eine Waffe. Sie spricht, obwohl das ein Risiko ist.
Lächeln gegen PutinHochzeit im Gefängnis — Die unwahrscheinliche Geschichte einer Liebe in Russland
Zum Beispiel Evgenia Kulakova. Im Februar heiratete sie ihren Freund Viktor Filinkov in der russischen Strafkolonie Orenburg. Seitdem dürfen sie sich dreimal im Jahr für drei Tage und drei Nächte sehen. Auf den Fotos von der Hochzeit im Gefängnis sind zwei glückliche Menschen zu sehen. Er trägt passend zur rosa Fliege einen Blumenkranz mit rosa und weißen Orchideen, sie einen weißen Schleier und ebenfalls eine rosa Orchidee im Haar. Sie lachen. Das Rosa leuchtet aus einem russischen Gefängnis.
Ihr Ausdruck zeigt: Ihr brecht uns nicht. Lächeln kann die Furcht besiegen
Vor Gericht zitierte Evgenia Kulakova, die sich zur Pflichtverteidigerin ihres Geliebten ernennen ließ, um ihn täglich besuchen zu dürfen, Romeo und Julia. Achtmal hat sie vor Gericht seine Rechte eingefordert. In vielen Fällen war sie erfolgreich. Auf allen Fotos aus dem Gefängnis und vor Gericht lächelt der 29-jährige Viktor Filinkov. Wie der berühmte Alexei Nawalny immer lächelte, bevor er am 16. Februar in der Strafkolonie starb. Wie alle politischen Gefangenen in Russland lächeln. Ihr Ausdruck zeigt: Ihr brecht uns nicht. Lächeln kann die Furcht besiegen. Lächeln zeigt Widerstandskraft und Lebensmut. Schon der Heilige Franziskus von Assisi sagte: „Zeigt in allen Leiden und denen gegenüber, die Euch quälen, ein lächelndes Gesicht.“ Viktor Filinkov und Evgenia Kulakova lächeln.
„Die Wärter in der Kolonie sagen, Viktor sei der glücklichste Mensch im ganzen Gefängnis“, sagt Kulakova. „Sie verstehen sein Lächeln nicht. Sie verstehen nicht, dass er so entspannt und fröhlich ist. Sie sind irritiert, weil wir einfach weiter lachen. Unser gemeinsamer Kampf und unsere Liebe geben mir Hoffnung und Entschlossenheit.“
Evgenia Kulakova spricht öffentlich über den Fall ihres Mannes, obwohl sie weiß, dass sie damit ein Risiko eingeht. Sie lebt in St. Petersburg und reist regelmäßig nach Orenburg in den Süd-Ural, um ihn zu besuchen. Jederzeit könnte sie verhaftet werden. „Ich spreche öffentlich nicht viel“, sagt sie. „Ich spreche fast nur über Viktor und das, was mit ihm passiert, weil ich trotz aller Zensur hoffe, dass die Öffentlichkeit immer noch unsere Waffe ist.“
Die Geschichte von Viktor Filinkov und Evgenia Kulakova ist auch auf einer der wenigen noch nicht verbotenen regimekritischen russischsprachigen Internetseiten zu finden. Sie wisse nicht, wie und ob man sich vor einer Verhaftung schützen könne, sagt sie. Zu schweigen, sei für sie jedenfalls keine Option. „Ich hoffe einfach, es wird nicht passieren.“
Viktor Filinkov, kasachischer Staatsbürger, ist Teil des so genannten Netzwerk-Prozesses, für den der russische Geheimdienst FSB gegen elf junge Russen ermittelte. Die Anklage warf den Männern vor, eine Terrorgruppe gegründet zu haben, die das Ziel gehabt habe, Anschläge zu verüben und Putin zu stürzen. Einige Angeklagte gestanden zunächst – die Geständnisse seien unter Folter erzwungen worden, sagten sie später. Menschenrechtler, die die Inhaftierten während der Untersuchungshaft besuchen durften, bestätigten Spuren von Elektroschocks, Blutergüsse und Knochenbrüche.
Memorial und Amnesty International setzten sich für Freilassung ein
Auch bei Viktor Filinkov stellte ein Arzt deutliche Spuren von Elektroschocks fest. Im Juni 2020 wurde er zu sieben Jahren Haft verurteilt. Die Menschenrechtsorganisation Memorial, die im Jahr 2022 den Friedensnobelpreis erhielt, stuft ihn als politischen Gefangenen ein, auch Amnesty International setzte sich für seine Freilassung ein. Nie seien Beweise für die Vorwürfe gegen ihn und die anderen Angeklagten vorgelegt worden. Dass ihr Mann zu einem Kreis junger Anarchisten und Antifaschisten gehörte, die das Regime von Vladimir Putin kritisierte, bestreitet Kulakova nicht. Auch sie selbst arbeitete zehn Jahre lang für Memorial.
Auf Nachfrage erzählt die Ehefrau auch über die Gesundheit ihres Mannes: „Er hat unter Depressionen gelitten, Probleme mit Rücken, Leber und Zähnen, zwischenzeitlich auch psychiatrische Anfälle.“ Aber, schiebt sie nach: „Es könnte ihm noch viel schlechter gehen. Wir kennen die schrecklichen Geschichten anderer Gefangenen.“ Eine Folge des ständigen Kampfes für die Rechte ihres Mannes sei es, „dass es das medizinische Personal inzwischen wohl vorzieht, ihm zu helfen, um neue Klagen zu verhindern“.
Es fällt auf, dass sie lieber über das redet, was ihr Hoffnung macht, als über den Status Quo in Russland. „Die politische Gegenwart hier ist desillusionierend“, sagt sie. „Die Liebe gibt mir Kraft.“
Der Austausch mit der 35-jährigen Russin findet über verschlüsselte Chats und Mails statt. „Natürlich befindet sich Viktor in einer schrecklichen Situation. aber er ist entschlossen, sein Leben so vollständig und glücklich zu leben, wie es möglich ist“, sagt sie. Er arbeite sechs Tage in der Woche als Näher. In der verbleibenden Zeit studiere er Mathematik, Sprachen (Englisch und Deutsch), lese, schreibe Briefe und versuche so, mit der Welt in Verbindung zu bleiben. In der Untersuchungshaft habe er ein Buch mit dem Titel „Programmierkurse für Mütter, Väter und Kinder“ geschrieben.
Eineinhalb Jahre in Isolationshaft, mit Klebeband nackt auf Bank fixiert
Viktor Filinkov verbrachte die ersten eineinhalb Jahre im Gefängnis in Isolationshaft – unter härtesten Bedingungen, wie seine Ehefrau sagt. Er sei „nach allen Regeln der Kunst schikaniert worden“. So habe man ihn in eine Isolationszelle verbannt, weil er einen Knopf geöffnet oder die Jacke zur falschen Zeit ausgezogen habe. Er sei mit Klebeband nackt auf einer Bank fixiert worden. Man habe ihm vorgeworfen, verbotene Wörter zu benutzen und die Sperrstunde zu missachten – „dabei hat er gar keine Uhr und weiß nicht, wie spät es ist“. Zwischenzeitlich sei er in eine Zelle verlegt worden, die voller Baustaub gewesen sei. Er habe keine warme Unterwäsche bekommen und bei Besuchen nicht mit ihr an einem Tisch sitzen dürfen. In seinem Sträflingsanzug sei eines Tages eine Rasierklinge gefunden worden, man habe ihm das zur Last legen wollen – „aber wir haben uns erfolgreich dagegen gewehrt“.
34 Klagen gegen Haftbedingungen habe sie gemeinsam mit einem professionellen Anwalt vor Gericht gebracht. An acht Prozesstagen saß Kulakova mit im Gerichtssaal. „Erstaunlicherweise hat uns das Gericht in vielen Punkten Recht gegeben. So wurden mehr als 200 Tage der Isolationshaft annulliert.“ Das Gefängnis habe ihrem Mann warme Unterwäsche geben müssen, schließlich habe das Gericht ihm sogar 100.000 Rubel Entschädigung für die Zeit in der Isolationshaft zugesprochen. Die Gerichtsurteile schickt Kulakova per Mail.
Wenn sie ihn als Verteidigerin besuche, dürfe sie Unterlagen mitnehmen, die penibel überprüft würden, erzählt sie. Jede Information, die er nach draußen übermitteln wolle, müsse sie handschriftlich notieren – „als lebten wir in vordigitalen Zeiten“. Bevor sie erfolgreich Beschwerde eingelegt habe, hätten sie im Besuchsraum des Gefängnisses an verschiedenen Tischen mit mindestens 1,5 Metern Abstand sitzen müssen. „Und sie stoppten uns, wenn wir uns einander nähern und uns küssen wollten. Es war verrückt.“
Als Ehepaar dürften sich Evgenia Kulakova und Viktor Filinkov nun dreimal im Jahr für drei Tage in einer Einraumwohnung im Gefängnis sehen. Beim ersten Treffen sei sie „glücklich wie nie zuvor in meinem Leben“ gewesen, sagt Evgenia Kulakova. Dass es nur ein kleines Zimmer war, mit winziger Küche und kleinem Bad, habe keine Rolle gespielt. „Endlich, nach so vielen Jahren, konnten wir uns berühren, zusammen essen und schlafen“, sagt sie. Es habe sich wie ein großer Sieg angefühlt. „Wir haben in diesen drei Tagen nur leckeres Essen gegessen, das ich mitgebracht hatte, und Sex gehabt. Es war die reine Freude.“
Über das Angebot, für Russland in der Ukraine zu kämpfen, hat Viktor Filinkov nur gelacht
Die Gefängnisleitung habe versucht, die Treffen zu verbieten – „im Interesse der nationalen Sicherheit“ müssten Filinkovs Rechte eingeschränkt werden, die dreitägigen Treffen bedeuteten „eine Bedrohung für die nationale Sicherheit“. Kulakova und Filinkov konnten darüber nur lachen – desto lauter, als auch die Staatsanwaltschaft die Sicherheit Russlands durch die Begegnungen des Liebespaares im Gefängnis nicht gefährdet sah.
Ähnlich wie dem in Haft gestorbenen Alexej Nawalny und vielen anderen politischen Gefangenen habe die Gefängnisleitung Viktor Filinkov angeboten, freizukommen, um für Putins „Spezialoperation in der Ukraine“ ins Kampfgebiet zu gehen, erinnert sich Evgenia Kulakova. Er hat dagegen geklagt. „Und natürlich darüber gelacht.“ Im Januar 2025 soll Viktor Filinkov nach sieben Jahren aus dem Gefängnis entlassen werden.