AboAbonnieren

Lebensgefährliche Proteste gegen RegimeSo ist die Lage im Iran ein Jahr nach dem Tod von Mahsa Amini

Lesezeit 5 Minuten
Ein Porträt von Mahsa Amini bei Protesten vor der iranischen Botschaft in brüssel im September 2022

Ein Porträt von Mahsa Amini bei Protesten vor der iranischen Botschaft in brüssel im September 2022

An diesem Samstag jährt sich der Tod der Kurdin Jina Mahsa Amini. Wie geht es dem Land heute? Die Gesellschaft steuert auf ungewisse Zeiten zu.

Unter dem Nachthimmel von Teheran tanzen die Lichter neonfarbener Leuchtreklamen an den Geschäften, ein warmer Hauch des Spätsommers weht durch die Straßen. In einem kleinen Café im Norden der Hauptstadt des Irans sitzt Jaleh und nippt an ihrem Eiskaffee. Ihre Gedanken sind weit entfernt vom Summen der Millionenmetropole. Wie viele andere Iranerinnen denkt sie an diesen Tagen an die Proteste vom vergangenen Jahr, ausgelöst vom Tod der Kurdin Jina Mahsa Amini.

Die berüchtigten Sittenwächter hatten die junge Frau gewaltsam festgenommen, weil sie ihr Kopftuch nicht richtig getragen haben soll. Sie fiel ins Koma und starb. Nur wenige Tage später entfachten die schwersten Aufstände in dem Land seit Jahrzehnten. Vor allem die junge Generation ging gegen die repressive Politik auf die Straßen. Jaleh hatte davor kaum demonstriert. „Mit Mahsas Tod hatte ich das Gefühl, dass ich mich mit meiner Angst auseinandersetzen muss. Am Anfang hatte ich Furcht, aber dann wurde sie immer weniger.“

Gewaltsamer Tod von Masha Amini: Triumphiert das Regime gegen die Proteste?

Jaleh ist Mitte 30, sie hat studiert und ist unabhängig. Sie strahlt, während sie spricht. Ihre Haare sind zusammengebunden. Wie viele andere Frauen im Café hält sie sich schon lange nicht mehr an die islamischen Kleidungsvorschriften. Mehrere Monate lang hatten die Proteste im Herbst 2022 das Land gelähmt, Sicherheitskräfte schlugen sie gewaltsam nieder, bis sie schließlich abflauten. Doch als Zeichen des stillen Protests ignorieren viele Iranerinnen in den Metropolen bis heute in nie dagewesenem Ausmaß die Kopftuchpflicht.

Eine Frau steht während einer Demonstration im Iran nach dem Tod der 22-jährigen Mahsa Amini vor einem brennenden Autoreifen und zeigt das Victory-Zeichen.

Ein berühmt gewordenes Bild, das für die Proteste der Frauen im Iran steht

Aminis Tod vor einem Jahr hatte auch deswegen so viel Entrüstung und Wut ausgelöst, weil sich viele Frauen mit ihr identifizieren konnten. Tagelang bangte die Nation um die 22-Jährige, nachdem Bilder an die Öffentlichkeit drangen, die Amini in der Intensivstation in ihrem Todeskampf zeigten. „Ich hatte das Gefühl, dass ich es sein kann. Das hat mich wachgerüttelt“, sagt Jaleh. „Es mag bedrückend klingen, dass erst der Tod einer jungen Frau ein solches Gefühl in mir auslöst, aber so war es.“

Irans Staatsführung steckt seither in einem Dilemma. Zugeständnisse an die Protestbewegung macht die Regierung nicht. Aber auch Rufe nach mehr Härte werden von der Führung mit Vorsicht umgesetzt, wohlwissend, dass neue Proteste folgen könnten. Gleichzeitig ist der zivile Ungehorsam vieler Iranerinnen den Hardlinern ein Dorn im Auge, zählt doch die Kopftuchpflicht zu den ideologischen Säulen der Islamischen Republik. Die Regierung reagiert so bislang mit Drohungen, Festnahmen und einem neuen Kopftuchgesetz, das drakonische Strafen vorsieht.

Unterdessen stellen immer mehr Iranerinnen fest, dass eine landesweite Kontrolle der Kopftuchpflicht allein durch Sicherheitskräfte unmöglich ist. Früher noch habe sich ein Großteil der Gesellschaft auch angesichts der sozialen Kontrolle an die Kleidungsregeln gehalten, sagt Tareq Sydiq, Protestforscher an der Universität Marburg. „Diese Norm ist komplett gebrochen. Und es ist sehr schwer, diese Angst wiederherzustellen“, sagt der Experte.

Die Skepsis und Ablehnung großer Gesellschaftsteile gegenüber der geistlichen und politischen Führung liege nun offen, meint Sydiq. „Mit den Protesten ist die Schwäche des Systems noch einmal viel klarer geworden.“ Dennoch scheint die Staatsführung wieder die Oberhand gewonnen zu haben. „Das Regime hat es geschafft, größere Brüche innerhalb des Machtapparats zu verhindern. Und damit kann es jetzt selbstbewusster auftreten als noch vor einem Jahr.“

Die vielen Krisen des Iran

Seit der Staatsgründung nach der Islamischen Revolution von 1979 ist der Iran immer wieder von großen Krisen erschüttert worden. Der erste Golfkrieg mit dem Nachbarland Irak prägt heute noch das kollektive Gedächtnis. Millionen Anhänger der sogenannten Grünen Bewegung gingen 2009 auf die Straßen und beklagten Wahlfälschung. Doch noch nie seien die gesellschaftlichen Gräben zwischen Anhängern und Kritikern des Systems so tief gewesen wie heute, beklagen auch Zeitzeugen der Revolution und die wenigen kritischen Stimmen der Politiker des Reformlagers.

Auch Frauen aus religiösen und traditionellen Familien beobachten die Innenpolitik mit Sorge. „Der Hidschab hatte in der iranischen Gesellschaft einst einen hohen Stellenwert, bevor er verpflichtend eingeführt wurde“, erzählt Asam Abbasi. Das Kopftuch sei eine religiöse Pflicht für gläubige Musliminnen, fügt sie hinzu. Abbasi ist Vorsitzende einer Partei, die sich aus religiöser Perspektive für Frauen einsetzt.

Der unnachgiebige Politikstil habe in den vergangenen Jahrzehnten zu Konfrontationen und einer aufgeheizten Stimmung im Land geführt, beklagt Abbasi. Angesichts der zahlreichen Verstöße gegen die Kopftuchpflicht sollten die Behörden auch darüber nachdenken, den Frauen die Wahl zu lassen, meint die Politikerin. „Wenn sie das System und den Islam bewahren wollen, sollten sie in sich kehren und auf die Stimme des Volkes hören.“

Auch deshalb rückt die junge Generation in den Fokus, die desillusioniert ist von der Politik der Islamischen Republik und sich einen schnelleren Wandel, einen radikalen Schritt wünscht. Ihnen gegenüber stehen junge Menschen, die bedingungslos das System unterstützen und dafür bereit sind, Gewalt auszuüben. Die Regierung sei nicht in der Lage, diese Polarisierung einzufangen, sagt der Politikwissenschaftler Sydiq. „Diese beiden Positionen sind unversöhnlich und treffen nun aufeinander. Und ich glaube, wenn die alte Generation langsam abtritt und die Jüngeren übernehmen, wird sich das erstmal zuspitzen.“

Der Wandel seit den Demonstrationen manifestierte sich folglich mehr auf kultureller, weniger auf politischer Ebene. Frauen wie Jaleh, die zwischen den Generationen stehen, zogen ihrer eigenen Einschätzung nach dennoch Gewinn aus den Protesten. „Ich habe mehr Selbstbewusstsein gewonnen. Selbst wenn ich gespürt habe, dass meine Kleidungswahl meinen Mitmenschen nicht gefällt, haben sie sich lieber zurückgehalten“, sagt die Frau in dem Café. „Ich trage nun schon lange, was ich will. Niemand hat das Recht, dagegen zu sein.“ (dpa)