Malteser-Chef der Ukraine„Morgens vergewissern wir uns, ob noch alle am Leben sind"
- Pavlo Titko arbeitet seit 29 Jahren für den Malteser Hilfsdienst in der Ukraine.
- Im Interview erklärt er, wie sich die Versorgungslage von Tag zu Tag verschlechtert.
- Der Kontakt zu einigen Mitarbeitern im Osten des Landes sei abgerissen, so Titko.
Herr Titko, wie beurteilen Sie die Lage der Flüchtlinge am sechsten Tag des Krieges?Pavlo Titko: Sie ist jetzt schon dramatisch und wird mit jedem Tag schlimmer. Sobald die Menschen die Möglichkeit haben, das Land zu verlassen, werden sie sich auf den Weg machen. Das ist nur eine Frage der Logistik. Momentan ist das alles sehr schwierig, weil Teile des Landes vom Westen abgeschnitten sind.
Es gibt zu wenige Züge, die Straßen sind verstopft, viele Brücken gesprengt, die Infrastruktur ist schwer beschädigt. Das gilt vor allem für Kiew. Aber selbst in den Regionen, in denen es noch keine Kämpfe gibt, wollen Menschen nur noch eins: ausreisen, ausreisen, ausreisen. Es muss gelingen, aus den bereits besetzten Städten Frauen und Kinder über grüne Korridore herauszuholen.
Sie arbeiten mit den Maltesern in Lwiw, dem ehemaligen Lemberg, im Westen der Ukraine und warnen seit Tagen vor einer kritischen Versorgungssituation.
Ich war am Dienstagabend in mehreren größeren Geschäften, vom Großhandel bis zu einem Einkaufszentrum. Es gab keine Nudeln, keinen Reis, keinen Buchweizen mehr. Alles komplett leer. Es ist nur noch eine Frage von Tagen, bis das zusammenbricht. Ich hoffe immer noch, dass die Menschen vielleicht auf Vorrat gekauft haben und die Lage deshalb so schlecht ist. Von Kiew sind wir hier inzwischen vollkommen abgeschnitten.
Was muss geschehen?
Es muss uns sehr schnell gelingen, die Ströme von Hilfsgütern, die aus dem Westen zu uns kommen, so zu organisieren, dass sie bei den Menschen ankommen.
Woran scheitert das bisher?
Es gibt sehr viele Probleme. Das beginnt mit den Engpässen an den Grenzen, die Straßen sind zu schmal, es gibt keine großen Lager, die sich für den Aufbau einer Logistik eignen. Auf beiden Seiten, in Polen und in der Ukraine, ist man auf eine solche Krise einfach nicht vorbereitet. Hinzu kommt die Bürokratie, wenn man allein an die Einfuhrbestimmungen denkt.
Wir können auch auf wichtige Datenbanken nicht mehr zugreifen. Es gibt eine sehr große Hilfsbereitschaft. Aber die muss auch in Deutschland und Europa besser koordiniert werden.
Was braucht die Ukraine am dringendsten?
Alle, die helfen wollen, müssen in erster Linie im Blick haben, die Menschen in der Ukraine zu retten. Das geht nur, wenn unsere Armee in die Lage versetzt wird, uns zu schützen. Darauf liegt auch bei uns der Schwerpunkt. Wenn wir das zusammen nicht schaffen, hat man zwar den Flüchtlingen geholfen, aber die ganze Ukraine wird ausgerottet.
Was heißt das genau?
Wichtig sind medizinische Einrichtungen und Produkte. Wenn es Korridore für die Versorgung von Verwundeten und für Flüchtlinge geben sollte, muss diese Infrastruktur stehen. Das gilt auch für die psychologische Betreuung.
Die seelische Lage der Menschen ist katastrophal. In dieser Woche hat eine Frau am Grenzübergang aus dem Auto angerufen. Sie war drei Tage aus Charkiw mit ihren Kindern unterwegs, hat zwei Tage in der Schlange an der polnischen Grenze gestanden. Sie hat über irgendeine Hotline eine Psychologin in Wien erreicht, die bei uns vor vielen Jahren als Freiwillige in der Ukraine gearbeitet hat. Sie hat gesagt, meine Kinder frieren hier in der Eiseskälte, wir haben keinen Sprit mehr, wir sind am Ende. Die Frau wollte Selbstmord begehen.
Bei einer meiner Mitarbeiterinnen sind zwei Frauen aus Kiew untergeschlüpft, ein 17 Jahre altes Mädchen und eine Mutter mit einem kleinen Kind. Die haben zwei Tage im Zug auf dem Boden gekauert. Dieser Krieg wird eine Masse an traumatisierten Menschen zurücklassen.
Wie können die Malteser unter diesen Bedingungen überhaupt noch helfen?
Vieles erinnert mich an die Maidan-Zeiten. Wir waren in der Ukraine insgesamt 70 Mitarbeiter, sieben davon hier in Lemberg. Es schließen sich aber immer mehr Freiwillige an. Wir waren am Dienstag schon 80 Freiwillige. Wir verteilen 1000 Portionen Essen an der Grenze, 1000 an den Bahnhöfen. Wir haben einen medizinischen Versorgungspunkt hier am Bahnhof und in einem Pilgerort, an dem es ein Priesterseminar gibt. Wir haben unsere Feldküche direkt am Grenzübergang zu Polen aufgebaut. Da wird heute das erste Essen ausgegeben. Und vor allem Tee.
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Wir organisieren das alles über das Internet, das zum Glück noch funktioniert. Abends veröffentlichen wir eine Liste mit dem, was benötigt wird. Die Lebensmittel sind dann morgens hoffentlich als Spenden vor Ort. Am Dienstag standen uns vier Transporter zur Verfügung. Wir müssen das alles aber noch strukturieren, Verantwortungsbereiche schaffen. In der Führung sind wir jetzt zu fünft. Jeder davon muss rund 150 Anrufe am Tag bewältigen.
Wie genau können Sie das Kriegsgeschehen überhaupt verfolgen?
Sehr aufmerksam. Natürlich wissen wir, dass sich ein 60 Kilometer langer Militärtross auf Kiew zubewegt. Wir machen uns große Sorgen. Jeden Morgen versuchen wir, Freunde und Verwandte in Kiew und vor allem im Osten anzurufen, um uns zu vergewissern, ob alle noch am Leben sind. Zu einigen unserer Mitarbeiter, die dort seit 2014 in der psychosozialen Betreuung von Flüchtlingen arbeiten, haben wir derzeit keinen Kontakt mehr. Ein paar leisten noch Hilfe per Internet aus Orten, die schon eingeschlossen sind. Wenn man einfach tatenlos im Keller sitzt, wird man ja verrückt.
Wie halten Sie das aus?
Es ist eine ständige Berg- und Talfahrt. Von Magenschmerzen und Durchfall bis zur Euphorie, dass wir doch durchkommen können. Wir scherzen, dass Europa vielleicht durch die Ukraine zu einer neuen Einheit kommt und wir womöglich schneller in der EU sind als die Briten, weil wir den Antrag eher gestellt haben. Es wird in jedem Fall eine neue Weltordnung geben. Es werden viele glückliche Umstände zusammenkommen müssen, damit das gelingt. Wie damals beim Fall der Berliner Mauer. Ich glaube daran. Wir müssen daran glauben.
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