Vergiftetes Klima, Täterschutz, Vertuschung: Eine neue Studie zu Missbrauchsstudien zeichnet ein düsteres Bild – und kommt der Frage näher, was wo falsch gelaufen ist.
„Täterkarrieren“ nachgezeichnetMissbrauch-Studie des Bistums Essen zeigt, wie die Kirche mit Tätern umging
Mit einer sozialwissenschaftlichen Studie zu systemischen Ursachen sexuellen Missbrauchs und seiner Vertuschung in der katholischen Kirche erweitert das Bistum Essen das Spektrum der Aufarbeitung.
Anders als in juristisch oder historisch ausgerichteten Gutachten, nimmt die Arbeit des Münchner „Instituts für Praxisforschung und Projektberatung“ (IPP) erstmals zentral die Dynamiken in den Pfarrgemeinden in den Blick, in denen Missbrauchstäter wirkten. Deren Vergehen hätten auch auf Gemeindeebene „erhebliches menschliches Leid verursacht“, teils mit jahrzehntelangen Nachwirkungen, sagte Studienleiterin Helga Dill. Mit hartnäckigem Schweigen, Leugnung, Bagatellisierung der Taten und Vorwürfen an die Opfer sowie sozialer Ausgrenzung hätten die Gemeinden einen eigenen Anteil am System der Vertuschung.
Studie des Bistums Essen offenbart vergiftetes Klima
Typisch gewesen sei die Solidarisierung der Gläubigen mit „unserem guten Pfarrer“. Die Idealisierung des geweihten, „gottnahen“ Priesters in der katholischen Kirche als Spezifikum der „katholischen Glaubensorganisation“ habe die kritische Urteilsbildung untergraben und dazu geführt, dass die Opfer weder auf der Ebene der Kirchenleitung noch auf Ebene der Pfarrgemeinden als Schutz- und Hilfebedürftige in den Blick kamen.
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Mangelnde Transparenz, fehlender Austausch zwischen Bistumsleitung und Gemeinden hätten dort zu einem vergifteten Klima, zu Spaltungen und zur Entfremdung vom eigenen Bistum geführt. Die Bistumsleitungen ihrerseits hätten zu keiner Zeit ihr Wissen dazu genutzt, „destruktive Gemeindedynamiken abzumildern“, so Dill.
Mehr als die Hälfte aller Missbrauchstaten durch Hinweise von Opfern bekannt
In der Statistik der dokumentierten Missbrauchsfälle seit Bistumsgründung 1958 bis heute gehen die neuesten Angaben deutlich über die Zahlen in der sogenannten MHG-Studie von 2018 hinaus. Das Bistum selbst gab am Dienstag 423 Verdachtsfälle an. Die Studie nennt 226 Meldungen von Betroffenen, davon drei Viertel männlich. Von den 201 Beschuldigten sind etwa zwei Drittel Bistums- oder Ordenspriester. Das restliche Drittel verteilt sich auf Diakone, Nichtkleriker und Ordensschwestern, hier speziell im Heimkontext.
Mehr als die Hälfte aller Taten, die schwerpunktmäßig in die 1950er bis 1970er Jahre fallen, wurde allein durch die Hinweise Betroffener bekannt. In einem weiteren Drittel waren die Vergehen überdies auch aktenkundig. Wie in anderen Bistümern, gehen die Studienverantwortlichen auch für Essen von einem großen, nicht näher bezifferten Dunkelfeld aus.
Studie des Bistums Essen widmet sich „Täterkarrieren“
Anhand von sechs Einzelfällen zeichnet die Studie die „Täterkarrieren“ nach. Unter den Beispielen ist sind Priester H., der von Essen ins Erzbistum München versetzt wurde und dort in der Verantwortung des damaligen Erzbischofs Joseph Ratzinger weiter als Seelsorger tätig sein durfte, sowie der Kölner Priester A., der mehrfach zwischen seinem Heimatbistum und den Bistümern Münster und Essen hin und her geschoben wurde.
Vergleichbar mit anderen Bistümern sind auch die festgestellten Reaktionen der Bistumsleitungen. Bis 2010, dem Jahr der ersten großen öffentlichen Skandalwelle, war deren Verhalten bestimmt vom Willen, die Täter und die Institution Kirche zu schützen. An Empathie und Sorge für die Opfer im Kindes- und Jugendalter ließen es die Verantwortlichen völlig fehlen, ebenso an Bemühungen um Aufklärung und Prävention.
Geteiltes Urteil zur heutigen Bistumsleitung
Der heutigen Bistumsleitung unter Bischof Franz-Josef Overbeck attestiert die Studie erhebliche Verbesserungen, ein hohes Maß an Lernbereitschaft und selbstkritischem Hinterfragen von Strukturen und Abläufen. Es bestehe aber weiter „Optimierungsbedarf“. So fehle es nach wie vor einer Differenzierung zwischen Prävention, Intervention und Aufarbeitung. Bis in die jüngste Vergangenheit habe das Bistum auch seine Informationsaufgaben gegenüber den betroffenen Gemeinden nicht wahrgenommen oder „in fahrlässiger Weise vernachlässigt“.
Einen besonderen Fokus richtet die Studie auch auf Mängel in der Priesterausbildung bis weit in die 1990er Jahre hinein. Die seit dem 16. Jahrhundert in der katholischen Kirche etablierten Priesterseminare bezeichnet die Studie als „eigenwillige Sozialisationsmilieus“ mit hohen Risiken für die Insassen, was deren menschliche Reifung angeht. Ihnen seien „wichtige alltagspraktische, soziale und emotionale Bewährungserfahrungen vorenthalten“ worden. Erschwerend und missbrauchsbegünstigend gewirkt habe eine vollkommene Sprachlosigkeit in Bezug auf Sexualität und sexualisierte Gewalt bis in die 1980er Jahre.
„Das Erfordernis des Zölibats wurde theologisch als Grundlage gesetzt, ohne dessen psychologische und soziale Voraussetzungen und den Umgang mit Sexualität zu adressieren.“ Später hätten die vielen Ausbildungsabbrüche von Priesterkandidaten wegen Partnerschaften und Liebesbeziehungen zu einer „Psychologisierung“ der Ausbildung geführt, in der zwar offener über Sexualität gesprochen worden sei. Sexuelle Gewalt als Problem sei aber immer noch nicht in den Blick gekommen.
Zölibatsverstöße nicht konsequent geahndet
Ein Spezifikum des Bistums Essen sei das Selbstverständnis als „liberales Bistum“ gewesen, in dem es weniger streng zugehe als anderswo. Die Studienmacher sprachen von einem „Gewirr an Erlaubtem, Verbotenem, irgendwie Erlaubtem, offiziell nicht Erlaubtem und Geduldetem“. Konkret habe das dazu geführt, dass Zölibatsverstöße aller Art nicht konsequent geahndet worden seien. Diese „organisationelle Diskrepanz“ zu den Vorgaben des Kirchenrechts und der katholischen Sexualmoral habe dann bis zur Jahrtausendwende - auch aufgrund eines mangelhaften Verständnisses von Sexualität - Formen der „Toleranz“ gegenüber sexualisierter Gewalt zur Folge gehabt.
Angesichts dieser Befunde müsse die Selbstglorifizierung im Bistum ein Ende haben, sagte Generalvikar Klaus Pfeffer. „Die Jahrzehnte nach der Gründung unseres Bistums werden oft als eine glänzende Aufbruchsgeschichte dargestellt. Das ist mit dem heutigen Tag vorbei.“
Ausweislich der Studie hätten alle Verantwortungsträger – den legendären Gründungsbischof des Ruhrbistums, Kardinal Franz Hengsbach, eingeschlossen – „schwere Schuld auf sich geladen“. Der seit 2009 amtierende Bischof Overbeck lehnte es aber ab, Einzelne zu Sündenböcken zu machen. Angesichts einer weithin verbreiteten „Verantwortungsdiffusion“ wäre es sogar „fatal, einzelne Verantwortliche herauszufiltern und an den Pranger zu stellen“, ergänzte Pfeffer.
Die Studienmacher ihrerseits betonten, dass sie Verantwortliche sehr wohl „dingfest gemacht“ hätten. Ihre Aufgabe sei es aber – anders als etwa im Kölner Gutachten des Strafrechtlers Björn Gercke – das konkrete Versagen im Einzelfall nachzuweisen und Verantwortung juristisch zuzuschreiben.
Opferwurden vom Bistum oft vergessen
Overbeck bekannte „großes Unrecht“, das den Betroffenen geschehen sei. Das Bistum Essen habe „in der Vergangenheit Betroffenen nicht wirklich Glauben geschenkt und sich nicht um sie gesorgt“. Missbrauch sei „ein systemisches Problem der gesamten Kirche.“ Aber die Kirche lerne, und „der Bischof lernt“, beteuerte Overbeck. Er versprach, dass fortan neben der juristischen Aufarbeitung die Bedürfnisse der Betroffenen für ihn und alle Verantwortlichen Priorität hätten. „Das gehört an die oberste Stelle.“
Das Bistum kündigte unter anderem noch für dieses Jahr klare Regeln für erweiterte Zahlungen an Betroffene und andere Hilfen an. Overbeck erklärte seine Bereitschaft, bei etwaigen Schmerzensgeldklagen auf die Einrede der Verjährung zu verzichten. Er strebe hier ein gemeinsames Vorgehen aller 27 deutschen Bistümer an. Im Bistum Essen hätten Betroffene überdies künftig auf Wunsch vollständige Akteneinsicht. Die getrennte Führung bischöflicher „Geheimakten“ neben der regulären Personalakte gebe es nicht mehr.
Missbrauch hat für Opfer traumatische Folgen
Als Vertreter der Betroffenen wies Stephan Bertram, Mitglied einer Studienbegleitgruppe, auf die teils lebenslangen traumatischen Folgen von Missbrauch hin, für die die Kirche aufkommen müsse. Sie solle „mit dem Missbrauch aufräumen und uns als Betroffene anständig entschädigen und behandeln“.
Johannes Norpoth, Sprecher des Betroffenenbeirats bei der Deutschen Bischofskonferenz und ebenfalls Teil der Studienbegleitgruppe, bescheinigte der Essener Bistumsleitung eine deutliche Steigerung der eigenen Lernkurve“. Gleichwohl gebe es Luft nach oben. Insgesamt strafe die Studie mit ihren Analyse-Ergebnissen „all diejenigen Lügen, die immer noch das Märchen der unsäglichen Einzeltaten erzählen und die systemischen Ursachen negieren wollen“.
Norpoth nannte beispielhaft den scheidenden Präfekten des vatikanischen Dikasteriums für die Bischöfe, Kardinal Marc Ouellet. Dessen jüngste Wortmeldungen zum „sogenannten Missbrauch“ seien „von Ignoranz und Arroganz triefende Wortmeldungen“ des „römischen Gerontoklerikalismus“. Mit Blick auf die Vertuschungsgeschichte der Vergangenheit attackierte er namentlich den langjährigen Kölner Offizial (Leiter des Kirchengerichts) Günter Assenmacher. Die Essener Studie weise nach, dass er auch in seiner Zuständigkeit für das Nachbarbistum „kirchenrechtliche Missbrauchsverfahren in pervertierter Art und Weise zu Täter- und Organisationsschutz benutzt“ und Opfer faktisch der Lüge bezichtigt habe.
Es sei schwer erträglich, dass Assenmacher sich im Erzbistum Köln „weiterhin diözesane Ehrentitel an die Brust heftet“. Er solle sich aus dem Kölner Domkapitel zurückziehen, „statt weiter durch seine dortige Mitgliedschaft dem Erzbistum und der katholischen Kirche Schaden zuzufügen und die Opfer seiner desaströsen Arbeit immer wieder neu zu brüskieren“, forderte Norpoth.