Der Kölner Staatsrechtler Stephan Rixen sieht gravierende Defizite der internen Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs in den Kirchen, besonders im Erzbistum Köln. Hier gelte Kritik an der Leitung schnell als Majestätsbeleidigng. Rixen erklärt, was ihn an einer vom Staat verantworteten Aufarbeitung überzeugt.
„Schmerzensgeld muss wehtun“Kölner Staatsrechtler spricht über sexuellen Missbrauch und das Erzbistum
Herr Professor Rixen, die Aufarbeitungskommission des Erzbistums Köln haben Sie im Dezember verlassen. Jetzt sind Sie Mitglied der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs auf Bundesebene. Was ist in Berlin besser als in Köln?
Stephan Rixen: Mich überzeugt, dass die Kommission in Berlin ein klares Verständnis von Aufarbeitung hat. Im Zentrum steht die Aufarbeitung des Vergangenen und hier das Gespräch mit den Betroffenen, um das erlebte Unrecht, Ursachen und Folgen zu verstehen, wie es im Auftrag der Kommission heißt. Das bildet die Basis für verbesserte Prävention, um die es in einem zweiten Schritt geht.
Für die Aufarbeitung des Vergangenen gab und gibt es gerade im Bereich der katholischen Kirche inzwischen doch schon eine ganze Flut von Gutachten.
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Aber welche Art von Aufarbeitung liefern diese Gutachten? Wenn sie – wie das Kölner Gercke-Gutachten – juristisch enggeführt sind und keine sozialen, kulturellen und moralischen Kontexte berücksichtigen, dann verschwindet Entscheidendes oder bleibt undeutlich, insbesondere die Perspektive der Betroffenen, um die es ja gerade bei der Aufarbeitung gehen sollte. Die Kommission des Bundes sieht Betroffene als Menschen mit ihrer Biografie, ihrer Unrechts- und Überlebensgeschichte. Es wurden inzwischen knapp 2500 Gespräche mit Betroffenen geführt oder ihre Berichte gelesen. „Geschichten, die zählen“ – das ist für die Aufarbeitungskommission des Bundes der entscheidende Leitgedanke.
Wo sehen Sie da Ihre Aufgabe als Jurist?
Ich bin weit davon entfernt, zu glauben, erlebtes Unrecht wäre begriffen und verstanden, wenn ein juristisches Etikett dranklebt. Aber die Unrechtserfahrung braucht schon auch eine rechtliche Reflexion. Das Recht ist ein Teil des Lebens. Aber das Leben ist mehr als seine rechtliche Bewertung.
Und was versprechen Sie sich von der Arbeit in der Kommission in Berlin?
Ich erlebe die Kommission als hochprofessionell, inhaltlich und organisatorisch. Dieses wissenschaftlich ausgerichtete Gremium hat einen unabhängigen Aufarbeitungsauftrag. Die von der Kommission angestoßenen Prozesse werden von der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) politisch und konzeptionell begleitet. Die UBSKM sorgt dafür, dass das Thema sexueller Kindesmissbrauch in den politischen und gesellschaftlichen Debatten präsent bleibt. Hinzu kommt ein hoch qualifizierter, interdisziplinär ausgerichteter und administrativ und politisch erfahrener Arbeitsstab. Entscheidend ist, dass Institutioneninteressen überhaupt keine Rolle spielen, weil die betroffenen Institutionen nicht die Finger im Spiel haben.
Anders als bei der internen Aufarbeitung in den Kirchen oder im Sport?
Im Sport fängt die Aufarbeitung ja jetzt erst an. Im Bereich der Schulen ist bisher kaum etwas geschehen. Und man hat sich lange Zeit auch ein Stück hinter den Kirchen versteckt. Das kann aber nicht funktionieren.
Warum nicht?
Das Thema des sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen betrifft unsere gesamte Gesellschaft, da kann und darf sich niemand verstecken. Ich sehe eine ganz wichtige Aufgabe für die Kommission des Bundes darin, jeder Verengung entgegenzuwirken und alle Bereiche der Gesellschaft in den Blick zu nehmen – wie eben den Sport, die Schulen, aber auch die Familie.
Beim Sport fällt mir übrigens positiv auf, dass sich der Deutsche Olympische Sportbund und die Deutsche Sportjugend, ausgehend von den Empfehlungen der Kommission für Aufarbeitungsprozesse in Institutionen, auf Standards verständigt haben, die es für gelingende Aufarbeitung in den Strukturen des Sports braucht. An solchen kirchenspezifischen Standards fehlt es in der „Gemeinsamen Erklärung“ zwischen dem damaligen UBSKM und der katholischen Bischofskonferenz von 2020.
Ein Stockfehler?
Man muss positiv würdigen, dass diese „Gemeinsame Erklärung“ die Aufarbeitung überhaupt in Gang gebracht hat. Der Staat hat sich dann aber weitgehend herausgehalten. Er entsendet einzelne Fachleute als Mitglieder in die Kommissionen der Bistümer. Aber im Kern sind es kirchliche Gremien, die letztlich arbeiten können, wie sie wollen. Es gibt keine verbindlichen Regeln über die Finanzierung, die Arbeit einer Geschäftsstelle, ein eigenes Budget. Können die Kommissionen eigenständig Aufträge vergeben? Oder müssen sie für alles den Bischof fragen, ob er es bezahlt? Noch gravierender ist die Unklarheit der Befugnisse. Sie können in einer solchen Kommission nur ernsthaft aufarbeiten, wenn Sie alles überprüfen können, was Ihnen gesagt wird. Und das bedeutet: Sie brauchen ungehinderten Zugang zu allen Akten und allen Akteuren. Aber auch das ist nicht verbindlich geregelt.
Teilen Sie die Position, dass das Konzept der internen Aufarbeitung schon im Ansatz verfehlt und daher zum Scheitern verurteilt ist?
Dafür ist letztlich zu wenig bekannt. Mag sein, dass es auch im kirchlichen Bereich Best-practice-Beispiele gibt, insbesondere, was die innere und äußere Unabhängigkeit der Kommissionsmitglieder betrifft. Damit steht und fällt alles. Es wäre deshalb schon mal gut, wenn es eine Evaluierung dessen gäbe, was die vielen einzelnen Kommissionen in den Kirchen, in den Sportverbänden oder andernorts eigentlich genau machen. Das könnte eine staatliche Aufgabe sein. Aus den Ergebnissen einer solchen Evaluierung ließe sich, da bin ich sicher, für alle gesellschaftlichen Bereiche etwas lernen.
Es hört sich aber so an, als wollten Sie die Kirchen oder die Sportverbände mit ihren Kommissionen weiterwerkeln lassen.
Ich halte es nicht für sinnvoll, die betroffenen Institutionen völlig herauszuhalten. Man braucht das Institutionenwissen. Es gibt überall, auch in den kirchlichen Kommissionen, Menschen, die ehrlich an Aufarbeitung interessiert sind und mit ihrem Insiderwissen behilflich sein können. Wichtig für die künftige Aufarbeitung in Staat und Gesellschaft wäre ein sicherer rechtlicher Rahmen. Es geht hier schließlich um eine Aufgabe von Dauer. Das spricht für eine auf Dauer angelegte Rechtsgrundlage – auch für das Amt der Unabhängigen Beauftragten, für die Arbeit der Aufarbeitungskommission, vor allem aber für die Betroffenen und deren Recht auf Aufarbeitung. Da geht es dann nicht nur um Fragen wie den Umgang mit Akten, sondern auch um verbindliche Hilfsangebote im Rahmen der Aufarbeitung – von Rechtsberatung bis hin zu psychologischer Begleitung.
Der Staat hat sich mit Blick auf seinen unmittelbaren Verantwortungsbereich – etwa die Schulen – bislang nicht eben als treibende Kraft der Aufklärung von Missbrauch erwiesen. Warum ihm jetzt die Hauptrolle zusprechen?
Auch Behörden mögen in der Vergangenheit durchaus Bremser einer Aufarbeitung in staatlicher Regie gewesen sein, weil dann natürlich auch die Frage nach dem Versagen des Staates, zum Beispiel bei der Heimaufsicht, gestellt werden müsste. Aber bei einem Problem, das unbestreitbar das ganze Gemeinwesen angeht, kann der Impuls von nirgendwo anders kommen als vom Staat – und das heißt von den Parlamenten. Ich setze auf den lernenden Staat, der auf ein erkanntes Problem mit dem Willen zur Besserung reagiert.
Im Strafprozess gegen den Serientäter Pfarrer Hans Ue. aus dem Erzbistum Köln, der vor einem Jahr mit einer Verurteilung zu zwölf Jahren Haft endete, hat sich gezeigt, was an Aufklärung möglich ist, wenn ein unabhängiger Richter das Heft in die Hand nimmt und nicht Verantwortliche der Täterorganisation.
Unabhängige Gerichte sind immer gut. Man könnte sich auch parlamentarische Untersuchungsausschüsse vorstellen, die dann natürlich auch das Agieren staatlicher Einrichtungen unter die Lupe nehmen müssten. Dass der Staat in der Lage ist, Aufarbeitungsprozesse auch für Unrechtserfahrungen zu organisieren, die eine ganze Gesellschaft betreffen, das hat der Umgang mit den Stasi-Unterlagen gezeigt.
Ihr persönliches Urteil über die Aufarbeitung im Erzbistum Köln haben Sie ja quasi schon durch Ihren Austritt aus der hiesigen Kommission gesprochen, kaum dass sie ihre Arbeit aufgenommen hatte. Wenn man so schnell die Brocken hinschmeißt, wie will man sich dann sicher sein, dass die Mitarbeit in einem solchen Gremium nichts bringt?
Ein halbes Jahr Kommissionsarbeit mit Sitzungen und zahlreichen Gesprächen mit Betroffenen und kirchlich Verantwortlichen, mit der Vorlage eines Arbeitsplans, der Erarbeitung einer Geschäftsordnung, aber auch mit vielen vertraulichen Hintergrundgesprächen, das war mehr als ein Anfang. Und trotz dieser wichtigen Ansätze haben sich für mich die Bedenken bestätigt, die ich von Beginn an hatte.
Welche Bedenken?
Das fängt beim Zweifel an der inneren Unabhängigkeit mancher vom Erzbistum und vom Betroffenenbeirat entsandten Mitglieder an, setzt sich bei der Frage nach Befugnissen und unbeschränktem Aktenzugang fort und mündet in dem Eindruck, dass unsichtbare Mauern errichtet werden, hinter denen sich die Leitungsebene gegen Aufarbeitung abschottet. In allen diesen Punkten bin ich letztlich zu dem Schluss gekommen, dass ich meine Vorstellungen von einer schonungslosen, effektiven Aufarbeitung nicht verwirklichen kann. Daher fand ich es richtig, meine Mitarbeit zu beenden.
Unsichtbare Mauern haben die unangenehme Eigenschaft, nicht sichtbar zu sein. Woran haben Sie erkannt, dass sie vorhanden sind?
Wenn es vom Ermessen des Bischofs oder anderer kirchlich Verantwortlicher abhängt, was sich eine Kommission anschauen oder welche Fragen sie stellen darf und welche Fragen unbeantwortet bleiben, dann empfinde ich das als Mauer. Und wenn kritische Fragen an die Leitungsebene offenbar schnell als Majestätsbeleidigung gelten, dann kommt oben auf diese Mauer noch der krönende Zinnenkranz. Das ist – um das auch zu sagen – kein Spezifikum des Erzbistums Köln oder kirchlicher Institutionen. Keine Leitung ist begeistert, wenn ihr Agieren sozusagen „aus Prinzip“ misstrauisch beobachtet wird. Aber einem katholischen Milieu, das geprägt ist von einer sakralen Überhöhung des Amtes, fehlt offenbar jeder Sinn dafür, was in der Demokratie, aber auch in der Wirtschaft selbstverständlich ist: dass Macht Kontrolle braucht und dass Leitung rechenschaftspflichtig ist.
Im Streit über den kirchlichen Reformprozess „Synodaler Weg“ hat Rom gerade noch einmal die besondere Autorität des Bischofs betont, die Amt keiner anderen Legitimation bedarf als der rechtmäßigen Einsetzung durch den Papst.
Das Fehlen jeglichen Verständnisses für den Eigenwert von Gewaltenteilung und Rechenschaftspflichten, die ja letztlich dem Schutz des Individuums und seiner unveräußerlichen Rechte dienen, ist bedrückend für alle, die – ob katholisch oder nicht – an Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenwürde interessiert sind. Es sollte klar sein, dass dieses Fremdeln mit den Errungenschaften modernen Rechtsdenkens effektive Aufarbeitung nicht erleichtert.
Aufarbeitung hat in allen Debatten immer auch eine finanzielle Dimension. Was sagen Sie als Jurist und Mitglied in der Kommission des Bundes zur Höhe einer „angemessenen“ Entschädigung?
Das lässt sich nicht pauschal beantworten. Manchen Betroffenen ist eine finanzielle Anerkennung nicht so wichtig, anderen schon. Ich höre immer wieder die These, es gehe den Betroffenen doch gar nicht ums Geld. Erstens ist das so allgemein formuliert falsch. Und zweitens dient eine solche Art von fürsorglichem Paternalismus immer nur den finanziellen Interessen der Institutionen, die das Geld behalten wollen, das die Betroffenen angeblich nicht wollen. Man muss also die Perspektive umdrehen und die Betroffenen fragen, was sie für angemessen halten. In vielen Fällen wird das eine Mischung aus immaterieller und materieller Anerkennung sein.
Das heißt?
Ich glaube, es geht vielen Betroffenen auch darum, dass ein Täter oder eine Institution sich zu ihrer Verantwortung klar bekennen und das auch kundtun. Verantwortungsübernahme ist aber nur glaubwürdig, wenn sie spürbare Folgen hat, etwas kostet, weh tut. Institutionen haben sozusagen nur ein Schmerzempfinden und kommen erst auf Trab, wenn es ans Geld geht. Und da muss ich sagen: Die bisherigen Zahlungen im Bereich der Kirche haben nicht im Geringsten einen solchen Effekt, zumal es sich erklärtermaßen um „freiwillige Leistungen“ handelt. Das heißt im Klartext: Die Betroffenenwerden als Bittsteller behandelt, nicht als Rechtssubjekte auf Augenhöhe. Und die Kirche erkennt nicht ohne Wenn und Aber ihre Verantwortung als Institution an, sondern lässt sich herab zu einer „Anerkennung des Leids“.
Wir sprechen hier über einen durchschnittlichen Betrag von 20.000 Euro. Ein Kölner Opfer klagt jetzt in einem Zivilprozess gegen das Erzbistum auf rund 800.000 Euro Schmerzensgeld.
Sollten die Gerichte Summen in dieser Größenordnung zusprechen, hätte das eine unschätzbare Signalwirkung und würde sämtliche Institutionen – nicht nur die Kirche – richtig in Bewegung bringen. Alle Institutionen müssten sich fragen, ob sie in der dann absehbaren Flut von Klagen jeden einzelnen Fall öffentlichkeitswirksam vor Gericht austragen oder sich nicht doch lieber vergleichen und Entschädigungssummen zahlen wollen, die dann weit über dem niedrigen Niveau liegen werden, das jetzt üblich ist.