Für seine drei Nichten war Hans Ue. ein Vaterersatz. Über Jahre hinweg missbrauchte der heute 71-Jährige die Mädchen.
Erst 20 Jahre später brachten sie ihn vor Gericht, wo er zu zwölf Jahren Haft verurteilt wurde.
Im „Kölner Stadt-Anzeiger“ erzählen Anke S. und Angelika V. erstmals öffentlich über die Zeit mit ihrem Onkel und den Prozess.
Köln – Sie sind Heldinnen! Dieses Wort des Vorsitzenden Richters Christoph Kaufmann in der Urteilsverkündung gegen den Priester und Seriensexualstraftäter Hans Ue. bewegt Angelika V. und Anke S. bis heute. „Wir mussten das erst mal verinnerlichen“, sagt Anke S. „Aber es stimmt schon. Es war ein schwerer Kampf.“
Die heute 36 Jahre alten Zwillinge sind Ue.s Nichten. Mit ihrer Anzeige wegen schweren sexuellen Missbrauchs brachten die beiden und ihre jüngere Schwester 2010 den Fall ins Rollen, der im Februar 2022 vor dem Kölner Landgericht mit einer Haftstrafe von zwölf Jahren für den heute 71-Jährigen endete.
Ue., so schildern es seine Nichten im Gespräch mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“, war in der „extrem katholischen Familie“ als Priester eine zentrale Figur: „die letzte Instanz, über jeden Zweifel erhaben“, sagt Anke S. Sie war Ue.s Lieblingsnichte. „Um die anderen hat er sich auch gekümmert, wie ein normaler Onkel das so täte“, erzählt S., deren Vater die Familie verlassen hatte, als die Zwillinge drei Jahre alt waren. „Aber für mich war der Onkel immer da: stundenlanges tägliches Telefonieren, Besuche, Unternehmungen, Hilfe bei Problemen in der Schule.“
Anke S. war 1993 aber auch die erste in der Reihe der drei Mädchen, die Ue. in den folgenden sechs Jahren an seinem damaligen Einsatzort in Gummersbach sexuell missbrauchte. Jahrelang wussten die Schwestern nicht voneinander. Ue. ließ sie jeweils glauben, was er ihnen antat, sei erstens normal („was auch ein Vater mit seinen Töchtern macht, um sie in die Weiblichkeit einzuführen“) und zweitens singulär.
Drittens sollten sie mit niemandem sprechen. „Er sagte, Mama wisse Bescheid, es interessiere sie aber nicht. In Wahrheit wusste meine Mutter gar nichts, aber ich habe ihm geglaubt, weil wir ihm immer alles geglaubt haben“, erzählt Anke S. „Als ich dann älter wurde und nicht mehr zu ihm gehen wollte, hat er zu mir gesagt, wenn ich komme, lässt er meine Schwestern in Ruhe.“
Die Fassade aufrechterhalten
Dass das nicht stimmte, erfuhren die Schwestern 1999 durch einen Zufall. Sie zogen ihre Mutter ins Vertrauen, die weitere Besuche bei Ue. unterband und persönlich den Kontakt zu ihm abbrach. Nur „der Oma zuliebe“ hielten sie mit den auch bisher üblichen Familientreffen die Fassade einer heilen kleinen Welt aufrecht. Ue. selbst redete die Geschehnisse klein. „Er hat gesagt, ‚Mensch, Anke, das war doch so schlimm nicht. So wie du es sagst, so ist das doch nicht passiert. Wir zwei können immer gerne drüber reden, aber ich werde es immer verleugnen.‘“
Ein Jahrzehnt lang verschlossen die Nichten den Missbrauch in ihrem Inneren. „Ich habe gar nicht mehr darüber geredet“, sagt Angelika V. „Wir hatten nur immer die Sorge, was er mit uns gemacht hat, macht er vielleicht auch mit anderen. Ich glaube, da spreche ich für alle Opfer.“ Konkrete Hinweise, versichern S. und V., hätten sie damals allerdings nicht gehabt – nur eine diffuse Angst. Und auf der anderen Seite das sichere Gefühl: „Der Onkel ist unantastbar. Niemand würde uns glauben.“
Traumatische Erlebnisse
Erst 2010 hört Angelika V. im Rahmen ihrer Erzieherinnen-Ausbildung etwas von traumatischen Erlebnissen, die man bearbeiten müsse, wenn sie einen nicht das ganze Leben verfolgen sollten. „Ich wollte immer Lehrerin werden, habe auch schon fünf Semester studiert. „Aber dann saß ich in den Prüfungen und hatte solch eine Versagensangst.“ Auch das eine Folge des Missbrauchs. „Dass man nichts mehr wert ist, wenn man versagt.“
V. sucht eine evangelische Beratungsstelle in Köln auf, nimmt Kontakt zu der Kölner Rechtsanwältin Petra Ladenburger auf – und erstattet Anzeige. Ihre jüngere Schwester schließt sich an. Die Staatsanwaltschaft leitet Ermittlungen gegen Ue. ein. Als das Erzbistum Köln über einen anonymen Brief davon erfährt, beurlaubt Kardinal Joachim Meisner den Geistlichen, der zu dieser Zeit als Krankenhaus-Seelsorger in Wuppertal tätig ist.
Warnung vor Karriereschäden
Anke S. hingegen tritt der Anzeige nicht bei. Ue. selbst wirft ihr vor, wegen eines „Ausrutschers“ wolle sie sein Leben kaputtmachen. Ue.s Bruder wiederum, ein hochrangiger Kommunalpolitiker, warnt vor irreparablen Schäden für die Karriere – für die von S., aber auch für seine eigene. „Darauf habe ich dann tatsächlich gehört.“, sagte Anke S.
Angelika V. und die dritte Schwester machen von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch. Das Bemühen von Rechtsanwältin Ladenburger um eigene kirchliche Ermittlungen auf Basis der Aussagen ihrer Mandantin läuft ins Leere. Der Fall kommt zum Erliegen. Meisner rehabilitiert Ue., der seine Nichte Angelika als krank hinstellt und sich selbst zum Opfer innerfamiliärer Intrigen stilisiert. Das Erzbistum übernimmt hälftig Ue.s Anwaltskosten. Dass er seine Missbrauchstaten bereits in dieser Zeit und auch später ungehindert fortsetzt, wissen seine Vorgesetzten damals nicht – oder wollen es nicht wissen. Eigene Nachforschungen hat die Kirche nie angestellt.
Nur einem lässt der Fall Jahre später keine Ruhe
Nur einem lässt die Sache später keine Ruhe: Der frühere Interventionsbeauftragte des Erzbistums, Oliver Vogt, nimmt sich 2018 die Akten noch einmal vor und kontaktiert die Nichten. Ob sie nunmehr bereit seien, den Fall noch einmal aufzunehmen. Wir haben gesagt, erst mal gucken“, erinnert sich Anke S. „Inzwischen waren wir sehr skeptisch gegenüber Vertretern der Kirche.“ Vogt habe die Entscheidung voll und ganz den drei jungen Frauen überlassen. „Und dann haben wir gesagt, okay, jetzt ziehen wir es durch, und wir machen es zu dritt.“
Der Grund für den Sinneswandel? „Unsere Töchter kamen damals gerade in das Alter, in dem es bei uns angefangen hat“, erklärt Anke S. „Wir haben uns gesagt – nur hypothetisch: Wenn denen so etwas passieren sollte und sie würden zu uns kommen, dann müssten wir sagen, wir haben uns nicht gewehrt, nichts unternommen.“ Ihre Zwillingsschwester ergänzt: „Es wurde uns gesagt, es könne gut sein, dass die Fälle nicht verjährt sind. Uns war dann recht schnell klar, dass wir es machen würden.“ – „Es war für uns die letzte Chance“, sagt Anke S.
Ein Versuch von Hans Ue., ein Verfahren mit Geld abzuwenden, verfängt nicht. Anke S. erzählt, der Onkel habe ihr als der Lieblingsnichte eine bestimmte Summe angeboten, die sie dann nach Gutdünken mit ihren Schwestern hätte teilen sollen. „Das war Teil seiner Strategie, zu spalten und Menschen auf seine Seite zu ziehen.“
Als Nebenklägerinnen im Prozess dabei
Ab November 2021 steht Hans Ue. in Köln vor Gericht. Seine Nichten verfolgen den Prozess im Zuschauerraum oder an der Seite ihrer Anwältinnen. Noch immer vertritt wird Angelika V. von Ladenburger vertreten, ihre Schwestern von Michaela Verweyen und Martina Lörsch.
„Stress pur“, erinnert sich Anke S. „Er ist der Täter, aber er ist auch unser Onkel. Es war verdammt hart, ihn in Handschellen zu sehen.“ Als eine „immer noch extrem mächtige Person“, hat Angelika V. ihren Onkel im Prozess erlebt. „Das hat erst mit der Zeit nachgelassen, auch als herauskam, dass wir nicht die einzigen Opfer waren, sondern wie viele andere es noch gab.“
Völlig aus der Fassung
Schon die Nachricht von einer weiteren Nebenklägerin kurz vor Prozessbeginn hat Anke S. völlig aus der Fassung gebracht. „Ich saß nachts um eins heulend im Badezimmer, habe versucht, dass meine Tochter mich nicht hört, und mit einer Freundin telefoniert. Das Schlimme war, zu erfahren, dass noch jemand betroffen war – nach uns. Und dass wir es 2010 hätten verhindern können.“
Trotzdem sagt sie: „Man kann für so etwas zu jung sein, aber nicht zu alt. Deshalb verstehe ich auch die Verjährungsfristen nicht. Vor 2010 hätten wir das definitiv nicht so gepackt, und auch jetzt war es noch superschwer.“
Kontrolle über das eigene Leben
Für die Zwillinge ist trotz alledem klar, dass sie sich der Situation im Prozess aussetzen wollen. Als „Realitäts-Check“, sagt Angelika V. – und als ein Stück Kontrolle über das eigene Leben. „Unsere Anwältinnen hätten uns bestimmt alles mitgeteilt. Aber wir hätten es nicht selbst gehört. Das war für mich der entscheidende Grund hinzugehen: dass ich wenigstens ein klitzekleines bisschen Kontrolle habe. Was sonst nie der Fall war.“
Seit dem Urteil, sagt Angelika V., gehe es ihr besser als vorher, „wirklich viel besser“. Es gebe nicht „die“ Gerechtigkeit. „Aber man hat uns endlich gehört, man hat uns geglaubt. Das war das Wichtigste.“ Wenn Anke S. heute an Ue. denkt, habe sie bisweilen den Impuls, ihn zu besuchen. „Nicht aus Mitleid in dem Sinn, dass er da jetzt hinter Gittern sitzt. Aber er ist halt auch ein geliebter Onkel gewesen. Und wir haben es in die Wege geleitet, dass er jetzt verurteilt ist und im Gefängnis sitzt. Ich weiß, er hat die Taten begangen, er ist schuldig. Ich weiß, dass es richtig ist, wie es ist. Aber ist halt auch schwer.“
Noch, sagt Angelika V., „ist nicht alles gut. Aber irgendwann soll es gut sein.“Ue. hat den Schuldspruch gegen ihn inzwischen akzeptiert. Das Urteil ist rechtskräftig. Anträge der drei Schwestern an die Kirche auf „Anerkennung des Leids“ hingegen sind nach wie vor nicht beschieden. Fast ein halbes Jahr hat es allein gedauert, bis das Erzbistum Köln jetzt Anke S. aufforderte, eine Unterschrift für ihren per Mail gestellten Antrag nachzureichen. Erst dann könne sich die zuständige Kommission damit befassen.