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MissbrauchsskandalKölner Jurist Rixen nennt kirchliche Aufarbeitung „bizarr“

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Missbrauch Symbolbild

Köln – Was meint Aufarbeitung? Antwort gibt die „Gemeinsame Erklärung über verbindliche Kriterien und Standards für eine unabhängige Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche in Deutschland“ zwischen der Deutschen Bischofskonferenz und dem (seit kurzem: der) Unabhängigen Beauftragten der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM).

Es geht um „die Erfassung von Tatsachen, Ursachen und Folgen von sexuellem Missbrauch an Kindern und Jugendlichen“, ferner um „die Identifikation von Strukturen, die sexuellen Missbrauch ermöglicht oder erleichtert oder dessen Aufdeckung erschwert haben.“ Aufarbeitung soll „das geschehene Unrecht und das Leid der Betroffenen anerkennen, einen institutionellen und gesellschaftlichen Reflexionsprozess anregen und aufrechterhalten, Betroffene an diesen Prozessen beteiligen“ und zu „Schlussfolgerungen für den Schutz von Kindern und Jugendlichen“ führen.

Kurz gesagt: Aufarbeitung ist Unrechtsvergegenwärtigung mit zukunftsorientierter Präventionswirkung. Aus der individuellen Leiderfahrung soll eine intergenerationelle Lernerfahrung werden, damit sich nicht wiederholt, was nie hätte geschehen dürfen.

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Der Staat hält sich weitgehend raus

So weit, so richtig. Was dann aber zu lesen ist, überrascht. Die Aufarbeitung, so heißt es, sei eine „genuine Aufgabe“ des Ortsbischofs, der sich verpflichtet, die Unabhängigkeit der Aufarbeitung zu gewährleisten. Im Klartext: Der Staat hält sich weitgehend raus. Wenn es um die Aufarbeitung geht, akzeptiert der Rechtsstaat bedenkenlos die quasi-autokratische Binnenstruktur der katholischen Kirche. Gewaltenteilung ist hier ein Fremdwort. Was „unabhängig“ bedeutet, bestimmt der jeweilige Bischof nach eigenem, unüberprüfbarem Ermessen.

Das schließt Entscheidungen in eigener Sache nicht aus. Nicht wenige amtierende Bischöfe haben in ihrem jetzigen Amt oder in ihren früheren Funktionen (etwa als Personalchefs) das Geschehen mitverantwortet, das jetzt aufgearbeitet werden soll.

Als ob VW den Dieselskandal selbst aufklären wollte

Welchen Aufschrei gäbe es, wenn der Staat sich mit VW einigen würde, VW-interne Kommissionen sollten den Dieselskandal aufarbeiten, und der VW-Vorstand möge auf die Unabhängigkeit der Kommissionen achten? Wie bizarr ist es, dass dies im Verhältnis zur katholischen Kirche als unproblematisch gilt, wo es doch um viel schlimmeres, nämlich die gesamte Person erfassendes Unrecht geht.

Leider versteckt sich der Staat hinter der angeblich bewährten Kooperation mit den Kirchen. Sie missverstehen das im Grundgesetz garantierte Selbstbestimmungsrecht der Religionsgesellschaften nur zu gerne als Schutzschild, um staatliche Kontrollmacht abzuwehren – und der Staat ist dankbar dafür und denkt: „Sollen die doch mal selber klar kommen mit ihren Problemen.“ Sonst könnte ja noch jemand auf die Idee kommen, der Staat habe durch mangelnde Aufsicht über kirchliche Einrichtungen das Unrecht mit ermöglicht. Und vielleicht stellt dann auch noch jemand die Frage nach der Staatshaftung.

Bedenkliches Arrangement zwischen Staat und Kirche

Wie bedenklich das Arrangement zwischen Staat und Kirche ist, zeigt beispielhaft die Bestellung der Mitglieder der Aufarbeitungskommissionen. Wie unabhängig sind sie wirklich? Alle Mitglieder der regelmäßig siebenköpfigen Aufarbeitungskommissionen in den 27 Bistümern werden vom zuständigen Bischof berufen. In Köln handelt es sich um zwei Betroffene, drei von der Kirche benannte und zwei von der Landesregierung vorgeschlagene Personen.

Weniger als die Hälfte der Mitglieder darf in einem besonderen Näheverhältnis zur Kirche stehen (Beschäftigungsverhältnis, Mitgliedschaft in einem „diözesanen Laiengremium“, gemeint sind Mitwirkungsgremien für Nicht-Geistliche). Das sind bei einer siebenköpfigen Kommission immerhin drei Mitglieder.

Problematische Nähe zum katholischen Milieu

Dem Vernehmen nach hat sich die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen schwergetan, Personen zu finden, die sich vorschlagen lassen wollten. Das dürfte nicht selten dazu geführt haben, dass Personen, die dem katholischen Milieu nahestehen, teils sehr nachdrücklich gebeten wurden, nicht „nein“ zu sagen. Trotz aller kritischen Distanz, die Personen für sich beanspruchen, die „ja“ gesagt haben, kann die Nähe zum katholischen Milieu zur Befangenheit führen.

Diese Nähe wird erst recht zum Problem, wenn die Kirche gezielt Personen benennt, die dem Frömmigkeitsstil des jeweiligen Ortsbischofs zugetan sind oder im innerkirchlichen Kulturkampf („Romtreue“ versus „Synodaler-Weg-Reformer“) seiner Linie folgen.

Heiligkeit macht alles heile

Wer zum Beispiel einer vergleichsweise schlichten Idee von Kirche anhängt, deren Heiligkeit irgendwie alles heile macht, wird systemische Defizite ebenso wegblenden wie die gefahrgeneigten Aspekte priesterlicher Existenz oder die Fragwürdigkeit eines traditionellen Sexualitätsverständnisses, für das außerhalb der katholischen, heterosexuellen Ehe das diabolische Desaster lauert.

Wenn dann noch Betroffene offenbar deshalb ausgewählt werden, weil sie „den Bischof verstehen“, sollte spätestens dann klar sein: Die Aufarbeitungskommissionen lassen sich personell auf Linie bringen und ihre Unabhängigkeit wird zur reinen Fassade.

Ernst gemeinte Bemühungen

Um nicht missverstanden zu werden: In den Aufarbeitungskommissionen wird es viele ehrlich bemühte, hochengagierte Mitglieder geben. Selbstverständlich gibt es auch Bischöfe, die die Aufarbeitung ernst nehmen. Aber Kennzeichen rechtsstaatlicher Machtdisziplinierung ist es, dass sie nicht primär vom guten Willen vermeintlich netter Menschen abhängt.

Der katholischen Kirche fehlt jeder Wille zum Recht im Sinne menschenrechtlich fundierter Machtbegrenzung, und sie ist stolz darauf. Es ist daher unabdingbar, dass die Besetzung der Aufarbeitungskommissionen stärker rechtsstaatlich gesteuert wird, um Kommissionen zu verhindern, die bestenfalls Placebo-Aufarbeitung leisten könnten.

Pseudotheologisch verkleideter Sexismus

Machen wir uns nichts vor: Eine Kirche, die im Jahre 2022 ernsthaft darüber diskutiert, ob Frauen Leitungsämter ausüben dürfen, hat jede Chance auf Zeitgenossenschaft vertan und ist auf dem Weg in die Katakomben der Selbstmarginalisierung. Dürfen Frauen Priesterinnen werden? Diese Frage ist so sinnvoll wie die Frage: Dürfen nur Zimmermannssöhne Priester werden?

Was pseudotheologisch verkleideter Sexismus ist („Jesus war ein Mann“), sollte auch katholischen Bischöfen seit den Debatten über die Frauenordination in den evangelischen Schwesterkirchen bekannt sein (die allerdings nach offizieller katholischer Auffassung gar keine Kirchen sind, sondern nur „kirchliche Gemeinschaften“, deren Erfahrungen wenig zählen).

Gekonnt weggeweinte Krokodilstränen

Innerkirchliche Ungereimtheiten sind für den weltanschaulich neutralen Rechtsstaat eigentlich irrelevant. Sie werden aus staatlicher Sicht aber da zum Problem, wo man befürchten muss, dass zu viele kirchenamtliche Äußerungen eine Haltung verraten, die die Werte des Rechtsstaats – Menschenrechte, Gewaltenteilung, Kontrolle – ablehnt.

All die kirchlichen Entschuldigungsroutinen, all die gekonnt weggeweinten Krokodilstränen, all die Rituale der Folgenlosigkeit, sie lenken nur davon ab, dass die katholische Kirche seit etwa zwanzig Jahren – und nicht erst seit 2010, als die sexualisierte Gewalt am Berliner Canisius-Kolleg publik wurde – mit freundlicher Duldung des Staates die Aufarbeitung verschleppt.

Zeitspiel gegen die Betroffenen

Das hat, zynisch gesprochen, aus Sicht der katholischen Kirche den Vorteil, dass man von den ohnehin niedrig bemessenen Entschädigungen noch weniger zahlen muss, weil die Zeit gegen die Betroffenen spielt. Es muss empören, dass es offenbar noch Bischöfe gibt, die diesen Befund empört zurückzuweisen. Josef Isensee, der brillante, sehr katholische und ziemlich konservative Bonner Staatsrechtslehrer, spricht daher völlig zu Recht von einer „Bischofskrise“, in der die Misere der katholischen Kirche kulminiert.

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Die real praktizierte Aufarbeitung in der katholischen Kirche macht eins deutlich: Der Rechtsstaat darf die Betroffenen sexualisierter Gewalt und die Schutzbefohlenen in der katholischen Kirche nicht länger alleinlassen. Die Würde der Menschen, der Vulnerablen und der Überlebenden, zu achten und zu schützen, ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt – auch gegenüber der katholischen Kirche. Übernimmt der Rechtsstaat nicht erkennbar Verantwortung, wird die Aufarbeitung in der katholischen Kirche scheitern. Bundes- oder Landesgesetze, die die Aufarbeitung demokratisch legitimieren und kontrollieren, sind deshalb das Gebot der Stunde.

Professor Stephan Rixen, geb. 1967, ist Direktor des Instituts für Staatsrecht der Universität zu Köln und Mitglied des Deutschen Ethikrats. Auf Vorschlag der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen ist er Mitglied der Unabhängigen Aufarbeitungskommission des Erzbistums Köln. (jf)