Die Leipziger Strafrechtlerin Elisa Hoven hält es für problematisch, dass einem freigesprochenen Mordverdächtigen nicht erneut der Prozess gemacht werden darf. Sie diskutiert darüber im KStA-Talk „frank&frei“.
Mordfall von MöhlmannStrafrechtlerin Elisa Hoven kritisiert Karlsruher Urteil
Frau Professorin Hoven, im Fall der 1981 ermordeten Frederike von Möhlmann hat das Bundesverfassungsgericht die erneute Strafverfolgung des 1983 freigesprochenen Tatverdächtigen für verfassungswidrig erklärt und damit ein Gesetz gekippt, mit dem die Große Koalition die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens beim Vorliegen neuer Beweismittel ermöglicht hatte. Was halten Sie von dieser Entscheidung?
Ich hätte anders geurteilt. Das Verfassungsgericht hat eine sehr restriktive Lesart des Grundgesetzes vertreten, indem es das Verbot einer Mehrfachbestrafung für dieselbe Tat (Artikel 103 des Grundgesetzes) auf die Mehrfachverfolgung ausgedehnt und diese Position auch noch für „abwägungsfest“ erklärt hat.
Was ist daran fragwürdig?
Das Gericht setzt damit das Verbot der Mehrfachverfolgung absolut und meint, es dürfe nicht gegen andere Grundsätze der Verfassung abgewogen werden. Das überzeugt mich nicht. Das Abwägen von Rechtsgütern macht unsere Verfassungswirklichkeit aus. Und meistens gibt es sehr gute Gründe, Ausnahmen zuzulassen. So kann meines Erachtens das Interesse an Gerechtigkeit in bestimmten Ausnahmefällen schwerer wiegen als die Rechtssicherheit und der Rechtsfrieden, die durch das Verbot der Mehrfachbestrafung gewahrt werden sollen.
Rechtsfrieden und Rechtssicherheit sind beides hohe Güter.
Deswegen ist im Grundsatz ja richtig, was das Bundesverfassungsgericht sagt. Die Bürger müssen darauf vertrauen können, wegen eines Delikts nicht immer wieder neu verfolgt zu werden, weil zum Beispiel ein Staatsanwalt einfach nicht lockerlassen will. Und nach einem rechtskräftigen Urteil muss grundsätzlich klar sein: Das war’s jetzt. Aber noch einmal: Es sollte Ausnahmen geben.
So war es im jetzt von Karlsruhe gekippten Gesetz der früheren Großen Koalition vorgesehen.
Und zwar nur bei schwersten Straftaten wie Mord, Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Wenn bei solchen Verbrechen neue Beweismittel vorliegen - im konkreten Fall waren es DNA-Analysen, die es zur Zeit des Mords an Frederike von Möhlmann noch nicht gab -, dann sollte ein weiteres Verfahren trotz vorangegangenen Freispruchs möglich sein. Wichtig wäre das übrigens auch für die künftige Ahndung von Kriegsverbrechen. Da ist die Annahme durchaus realistisch, dass man nach einem Freispruch noch Beweise gegen einen Tatverdächtigen findet, etwa wenn sich in einem ehemaligen Kriegsgebiet die politische Lage ändert, so dass dann neue Ermittlungen möglich werden.
Für Mord gibt es ja auch – anders als für andere Straftaten - keine Verjährung.
Auch da hat der Gesetzgeber das Interesse an Aufklärung und Gerechtigkeit über den Rechtsfrieden gestellt. Ein unerkannter Mörder muss also zeitlebens damit rechnen, dass er doch noch überführt und vor Gericht gestellt wird. Und wäre der Tatverdächtige im Fall Möhlmann 1983 nicht freigesprochen worden, hätte ihm jetzt mit der neuen Beweislage problemlos der Prozess gemacht werden können.
Karlsruhe sagt: Mit dem erfolgten Freispruch tritt der Rechtsfrieden ein.
Aber das tut er tatsächlich nicht. Ich halte diese Sicht für etwas lebensfremd. Man sieht es ja an den öffentlichen Reaktionen: Es stört den Rechtsfrieden weitaus stärker, dass jetzt ein Mord trotz erdrückender Beweise ungesühnt bleibt. Problematisch finde ich zudem, dass das Gericht sagt, es sei doch auch für die Opfer besser, wenn sie wüssten: Ein Gericht hat entschieden, und an dieser Entscheidung wird nicht mehr gerüttelt. Diese Behauptung ist gerade in diesem Verfahren erstaunlich. Es war schließlich der Vater von Frederike von Möhlmann, der durch eine Petition die Gesetzesänderung initiiert hat. Für viele Opfer gilt nach einem Freispruch gerade nicht „Fall erledigt“. Vielmehr bleibt die Frage nach der Schuld offen.
Aber ist psychologisch nicht etwas dran an der Botschaft: „Ihr müsst irgendwann auch mal loslassen!“
Ich finde es paternalistisch, den Eltern eines vergewaltigten und ermordeten Kindes zu sagen: „Es ist besser für euch, wenn das Verfahren nicht wieder aufgenommen werden darf.“ Der Schmerz der Eltern endet nicht. Gewiss, sie müssen damit leben, wenn der Rechtsstaat sagt, da ist nichts mehr zu machen. Aber man sollte das nicht so umdeuten, als täte man ihnen damit sogar noch einen Gefallen.
Befürworter des Karlsruher Urteils verweisen darauf, dass das Grundgesetz mit seinem Verbot der Mehrfachbestrafung die Konsequenz aus den Erfahrungen mit dem Unrechts-Regime der Nazis gezogen hat. Ist das nicht ein wichtiger Gesichtspunkt, darauf bedacht zu sein, dass der Staat seine Bürger nicht mit den Mitteln des Rechts drangsaliert?
Ich finde dieses Argument schwierig. Der Vergleich mit dem Unrecht im Nationalsozialismus baut eine Schreckenskulisse auf, die mit den Realitäten unseres Rechtsstaats fast 80 Jahre nach 1945 nichts zu tun hat. Es stimmt aber, dass man unsere Verfassung im Lichte ihrer Entstehung lesen und verstehen muss. Das Grundgesetz ist ein Gegenentwurf zum Nationalsozialismus. Eine Verfassung, die heute geschrieben würde, könnte mit guten Gründen auch ganz anders aussehen. Sie könnte die Mehrfachverfolgung anders gewichten und bei schwerwiegenden Verbrechen der Gerechtigkeit den Vorrang einräumen. So wird man bei einem internationalen Rechtsvergleich feststellen, dass in zahlreichen demokratischen Staaten die Möglichkeit vorgesehen ist, einen freigesprochenen Straftäter erneut anzuklagen, wenn es neue Beweismittel gibt. Das ist das Ergebnis einer völlig legitimen Abwägung zwischen Rechtsfrieden und Gerechtigkeit – und niemand behauptet, diese Länder kämen damit in die Nähe von NS-Verhältnissen.
Es gab zum Urteil des Verfassungsgerichts zwei abweichende Sondervoten.
Die haben genau diesen Punkt stark gemacht: Es ist ein wesentliches Anliegen des Strafrechts, Unrecht zu ahnden für materielle Gerechtigkeit zu sorgen. Und die Bürger haben die berechtigte Erwartung an den Rechtsstaat, dass er diesem Auftrag nachkommt. Im Fall Frederike von Möhlmann bleibt nun eines der schwersten Verbrechen, die es gibt, ungesühnt. Das ist im Rechtsstaat ein hoher Preis, und man muss sehr genau überlegen, ob man diesen Preis zahlen will. Das Gleiche könnte – wie erwähnt – für Kriegsverbrechen gelten, durch deren Nichtahndung Spannungen entstehen mit Blick auf Deutschlands Mitverantwortung für internationale Gerechtigkeit.
Ist das alles denn nun mit dem Urteil des Verfassungsgerichts ein für alle Mal abgeschlossen?
Das Einzige, was man jetzt noch machen könnte, wäre eine Verfassungsänderung. Aber das wird nicht passieren. Dafür braucht man sehr große Mehrheiten. Und das Thema war insgesamt so umstritten, das wird man jetzt ruhen lassen.
Zur Person
Elisa Hoven, geb. 1982, ist Professorin für Strafrecht und Strafprozessrecht an der Universität Leipzig. Sie ist außerdem Richterin am Sächsischen Verfassungsgerichtshof. Im Verfahren von Möhlmann vor dem Bundesverfassungsgericht war sie Prozessvertreterin für die SPD-Bundestagsfraktion.
Hoven und der emeritierte Kölner Strafrechtsprofessor Thomas Weigend haben zusammen das Buch „Strafsachen. Ist unser Recht wirklich gerecht?“ veröffentlicht. DuMont Buchverlag, 284 Seiten, 23 Euro. (jf)
frank&frei
Über den „Fall Möhlmann“ und andere spannende Fragen aus dem Bereich des Strafrechts diskutieren Elisa Hoven und Thomas Weigend in der nächsten Folge des KStA-Talks „frank&frei“ mit Chefkorrespondent Joachim Frank.
frank&frei: Wie gerecht ist unser Recht?, Dienstag, 28. November, 19 Uhr in der Karl-Rahner-Akademie, Jabachstraße 4-8, 50676 Köln. Eintritt: 10 Euro (ermäßigt und mit KStA-ABOCARD 5 Euro). Anmeldung hier oder unter unter Tel. 0221/801078-0.