Neun Protestierende aus dem Iran berichten vom Leben im Ausnahmezustand nach dem Tod von Mahsa Amini.
Berichte aus dem Iran„Ich bin angeschossen worden“
Nach dem Tod der 22 Jahre alten iranischen Kurdin Mahsa Amini haben im Iran Proteste begonnen, die immer weiter um sich griffen. Frauen verbrannten ihre Kopftücher und schnitten sich öffentlich ihre Haare ab, überall im Land gab es Demonstrationen, die zum Teil brutal niedergeschlagen wurden.
Über die Zahl der Toten und Verhaftungen gibt es nur Schätzungen. Völlig ungewiss ist, wie es weitergeht: Wird die Protestwelle abebben, da sie mit staatlicher Gewalt unterbunden wird? Könnten die Proteste der Beginn einer Revolution sein?
Mithilfe von Mina Ahadi und Said Boluri, Journalisten und Menschenrechtlerinnen iranischer Herkunft, hat der „Kölner Stadt-Anzeiger“ Chat-Protokolle von Menschen aus dem Iran recherchiert und ausgewertet. Der Redaktion sind die echten Namen bekannt, um die Protestierenden zu schützen, haben wir sie geändert. Neun Menschen erzählen von ihren Hoffnungen und Ängsten in einem Land im Ausnahmezustand.
Arezu (18), Abiturientin, aus Karaj
„Ich gehe fast täglich zu den Protesten. Statt in der Schule zu lernen gehen wir raus auf die Straße und rufen Parolen, schreiben unsere Forderungen auf Mauern, verteilen Aufrufe. Es begann damit, dass die Lehrer uns in der Schule das Lied „Salam Farmandeh“ (Führerlied zur Huldigung von Präsident Chamenei) vorgespielt haben, obwohl unsere Mitschülerinnen täglich sterben. Wir haben offen dagegen protestiert. Zuerst in den Klassen, dann auf dem Schulhof!
Als wir auf der Straße waren, haben sie uns zuerst gefilmt. Irgendwann haben sie auf uns geschossen. Es ist wie im Krieg. Wir laufen weg, verstecken uns hinter den Bäumen oder flüchten auf Dächer. Unser Leben ist dem Regime egal. Das Regime muss weg!“
Anderer Tag: „Heute waren wir wieder in der Schule. Sie haben wieder das „Führerlied“ gespielt. Wir haben „Azadi, Azadi, Azadi“ (Kurdisch: Freiheit) gerufen. Wir sind auf die Straße gelaufen und haben gerufen, dass die Menschen mitmachen sollen. Einige haben uns unterstützt.
Die Revolutionsgarde wollte uns angreifen. Sie haben uns wieder gefilmt. Wir haben uns verteidigt und sie angegriffen. Wir waren sehr viele. Haben ein paar Schlägertrupps erwischt und sie gezwungen, unsere Videos und Bilder zu löschen. Es ist eine riesige Solidarität unter den Menschen.
Anderer Tag: „Ich bin angeschossen und verletzt worden. Sie haben mich auch identifiziert. Ich versuche die Leute, um mich herum zu organisieren, damit wir nicht nachgeben. Es gibt keinen anderen Weg. Die Menschen sind hoffnungsvoller und stärker denn je gerade! Aber das Regime wird nicht freiwillig zurücktreten. Wir brauchen die Solidarität von allen.“
Zahra (30), Hausfrau, aus Teheran
Ich war auf der Straße, obwohl aus meinem Umfeld viele für das Militär und die Revolutionsgarde arbeiten. In einer Nacht haben die Demonstrierenden ein Gebäude des Regimes angezündet. Es sind viele Menschen festgenommen worden, vor allem junge Frauen. Jede Nacht gehen die Rufe durch die Straßen: Nieder mit der Diktatur! Nieder mit Chamenei! Tötet Chamenei!
In ruhigeren Stunden der Demonstrationen tanzen wir zusammen auf der Straße, das ist sehr schön. In Kurdistan haben Mädchen und Jungs in der Universität zusammen gegessen und danach getanzt – so etwas ist streng verboten, ich hatte es zuvor noch nie gesehen. Wenn ich 14- oder 15-jährige Mädchen ohne Kopftuch sehe, wenn ich die ganze Solidarität sehe, das Mitgefühl, dann bin ich glücklich.
Aber wenn ich höre und sehe, wie junge Menschen festgenommen werden, höre, dass sie getötet werden, bin ich sehr traurig. Die Hoffnungen werden brutal niedergeknüppelt. Trotzdem machen wir weiter. Mädchen und jungen Frauen werfen trotz großer Gefahr, festgenommen zu werden, ihr Kopftuch weg und rufen, dass sie sich nicht mehr unterdrücken lassen, nicht mehr unter dem islamischen faschistischen System leben wollen.
Ich hoffe, dass die Familien der ermordeten Menschen den Protest weiter befeuern und vergrößern. Die Menschen wollen nicht mehr unter dem islamischen Regime leben. Ich habe große Angst – nicht vor dem Sterben, aber festgenommen zu werden. Ich kenne Frauen, die gefoltert wurden und vergewaltigt. Es gibt sehr viele Vergewaltigungen. Davor habe ich Angst.
Sirin (40), Hausfrau aus Karaj
„In Karaj ist viel los, Ich habe Angst um unsere Kinder. Aber ich bin vor allem stolz auf sie. Wieviel Mut sie haben. Gestern wollten wir die Bilder von unseren Verletzungen hochladen. Gib uns bitte deinen Telegram-Kontakt. Instagram ist unsicher.
Sie haben uns mit Schrotflinten und Pistolen beschossen. Wir sind verletzt. Mir wurde in den Arm geschossen und meiner Tochter in die Schulter. Mittwoch und Donnerstag haben wir in Karaj so viel Tränengas abbekommen, dass ich fast erstickt wäre. Ich hatte noch nie so starke Kopfschmerzen.“
Anderer Tag: „Bitte teile diesen Aufruf. Am Donnerstag wollen wir alle wieder auf die Straße.“
Azad (25), Krankenpfleger aus Mashad
„Ich muss dir was erzählen. Bitte veröffentliche das! Damit die Menschen erfahren, was sie hier mit uns anstellen! Ich bin Krankenpfleger im Krankenhaus. In meiner Schicht wurde ein Notfall-Patient eingeliefert. Ein 23-Jähriger mit inneren Blutungen durch Schussverletzungen.
Ich war als OP-Pfleger vor Ort. Wir haben den Bauch geöffnet. Die Kugel hatte die Leber und den Brustkorb getroffen. Wir haben versucht, ihn zu retten und die Blutung vorerst gestoppt. Auf der Intensivstation hatte er in der Nacht wieder Blutungen und verstarb. Danach haben wir erfahren, dass er Student an der Universität war. Er war bei den Protesten am Volkspark in Mashad beteiligt. Bis dahin hatte mich nichts gewundert. Das alles kennen wir leider bereits.
Dann aber kam ein „Sicherheitsbeamter“. Er tauschte die Akte des toten Studenten mit der eines 61-jährigen Mannes aus. Dem Patienten geht’s gut, wurde vermerkt. Später habe ich von Kollegen erfahren, dass die Leiche an die Sicherheitsorgane übergeben wurde und verschwunden ist. So kaputt und pervers ist dieses System.
Ich kann hier niemandem vertrauen. Kann die Sache nicht mal mündlich jemandem weitererzählen. Schau wie du das weiterleiten oder veröffentlichen kannst. Das war echt traurig. Das war jemand wie wir. Junger Kerl, gepflegt und gutaussehend. Sie haben uns nicht mal seinen Namen gesagt."
Mehdi, Künstler (49) aus Abadan
„Die Militärs sind sehr aggressiv, sie haben am Anfang der Proteste viele Menschen festgenommen. Zum Beispiel einen Ingenieur und einen Journalisten, von denen wir dann zwölf Tage nichts gehört haben.Wir haben Angst, dass unsere Freundinnen und Freunde gefoltert und ermordet werden. Auf der Straße sind wir sehr laut und mutig: Diese Bewegung ist überall. Jetzt können wir die Geschichte vom Iran verändern. Iran ist unsere Heimat, das Regime muss gehen, nicht wir.“
Solmaz, Studentin aus Kazeron
Unsere Stadt ist klein. Einige Anführerinnen der Proteste wurden festgenommen. Es gibt viele Revolutionswächter und Geheimdienste in der Stadt – sie schaffen ein Klima der Angst. Die Menschen möchten weiter demonstrieren, aber das Regime geht brutal gegen die Demonstranten. Wir müssen weitermachen, bis das Regime abtritt.
In Schiraz hat der Islamische Staat einen Anschlag verübt, bei dem es 15 Tote gab. Das Regime hat erklärt, wir Demonstranten seien dafür verantwortlich. Das ist die Taktik des Systems: Fake News zu verbreiten. Wir lachen darüber.
Ali (40), Lehrer aus Schiraz
Es gab große Demonstrationen in meiner Stadt, im Moment allerdings ist es ruhig geworden. Zu ruhig. Ich habe das Gefühl, wir haben nicht genug Kraft. Wenn ich von den vielen Festnahmen von jungen Frauen höre, werde ich depressiv.
Die Bewegung ist wunderbar, aber täglich kommen traurige Nachrichten. Die Hoffnung schwindet. Die Lage ist völlig unklar, es ist wie ein Bürgerkrieg. Wir wissen nicht, was ist und was wird.
Das Internet ist größtenteils lahmgelegt, man kann sich nicht informieren. Wir wissen nicht, was in anderen Teilen des Landes und in der Welt los ist. Es gibt keine Sicherheit und keine Ruhe.
Arman (27), Zahntechniker, Mashad
„Ich wurde vor zwei Wochen festgenommen, mitten auf der Straße. Erstmal haben sie mich auf die Wache nach Ahmadabad gebracht. Dann wurde ich zu einer Schule der Spezialeinheiten nach Piruzi gebracht. Es sah zumindest aus wie eine Schule. Sie haben uns in Gruppen aufgeteilt und uns unsere Handys abgenommen. Zwischendurch haben sie uns etwas Essen gebracht. Wir mussten in Gruppen auf dem Boden sitzen und schlafen.
Irgendwann sagten sie: Informiert eure Familien oder Anwälte, dass sie „Kaution“ hinterlegen sollen. Ich musste eine riesige Summe hinterlegen. Bin jetzt erstmal auf freiem Fuß. Nächste Woche habe ich Verhandlung: Soweit wie ich informiert bin, bekommen die Leute Peitschenhiebe auf Bewährung und hohe Geldstrafen.“
Anderer Tag: Ich habe 80 Peitschenhiebe auf Bewährung und 10 Millionen Toman Geldstrafe bekommen. Beschwerde eingereicht. Von denen, die keine Kaution zahlen konnten, habe ich nichts mehr gehört.“
Anderer Tag: „In Ahmadabad ist momentan wenig los. Als Nika (Shakarami, eine Aktivistin) gestorben ist, hatten die Leute Angst. Hier haben sie an jeder Straße Motorräder von Spezialeinheiten postiert. Es gibt erstmal keine weiteren Demos in unserem Stadtteil.
Ich lerne gerade wieder Deutsch. Ich will raus hier. Ich habe Zahntechnik gelernt. Kannst du mir jemanden vorstellen, der in der Branche ist oder Arbeitgeber, die mich nehmen würden?“