Eine populistische Partei steigt zur dominierenden Kraft in den Niederlanden auf: Die Bauern-Bürger-Bewegung (BBB) könnte nach den Neuwahlen im Herbst die Ministerpräsidentin stellen. Was kommt da auf unser Nachbarland zu – und auf Europa?
NiederlandeWas mit der Bauern-Bürger-Bewegung auf Europa zukommt
Groningen - Im Grunde hatte Eddie van Marum keine Wahl. Wenn man ihm zuhört, muss man sagen: Er wollte nicht in die Politik – er musste. Wegen des Leids, das er sah. Van Marum sagt: „Das hat Leben gekostet.“ Der 55-Jährige trägt ein schwarzes T-Shirt und hat eine hagere Statur, er strahlt etwas Rastloses aus. In der Nacht genügen ihm vier Stunden Schlaf, „aber am Tag trinke ich dafür 20 Tassen Kaffee“.
Die Zigaretten dreht er selbst. Sein Geld hat er bisher als Jäger, Berater für Erdbebengeschädigte und Bestatter verdient. Zum Gesprächstermin auf einem Bauernhof südöstlich von Groningen kommt er einige Minuten zu spät. Einer der vielen neuen politischen Termine jetzt, er bittet um Nachsicht.
Seinen neuen Job nun verdankt er zwei Erlebnissen aus den vergangenen Jahren. Da war der Mann, Kunde von ihm, dessen Haus gleich zweimal von Erdbeben erschüttert wurde. Die Schäden des ersten waren gerade beseitigt, da kam das nächste, der Plasmafernseher fiel von der Wand. Das Haus liegt über dem Groninger Erdgasfeld, Hunderte Beben hat es dort in den vergangenen Jahrzehnten wegen der Förderung gegeben. Die Erdgasgesellschaft aber sagte: „Das war kein Erdbeben, es gibt kein Geld.“ Da verließ den Mann der Lebensmut. „Der war so getroffen, der konnte nichts mehr essen“, sagt van Marum. Vorher war er ein stattlicher Mann von 90 Kilogramm. „Den habe ich mit 48 Kilo aus dem Haus getragen.“
BBB: Europäisches Politphänomen
Der Nächste war ein Bauer, ein Bekannter, der sich erhängt habe. Finanzielle Probleme, die vielen Auflagen. Er habe die Strangulationsmale weggeschminkt, damit man sie bei der Beerdigung nicht so sieht, sagt van Marum. Das ist sein Spezialgebiet: die schweren Fälle.
Also trat Eddie van Marum einer neuen Partei bei, der Bauern-Bürger-Bewegung, kurz BBB. Seit März sitzt er nun für sie im Provinzparlament von Groningen. Da gewann die BBB aus dem Stand in allen zwölf Provinzen und wurde landesweit stärkste Partei. Bei den Neuwahlen, die nach dem Rücktritt der Regierung von Mark Rutte voraussichtlich im November stattfinden werden, deutet nun vieles darauf hin, dass die BBB die Verhältnisse in den Niederlanden dauerhaft verändert – und auch die politischen Gewichte in Europa weiter verschiebt.
Die BBB ist ein europäisches Politphänomen. Eigentlich ist sie die speziell niederländische Antwort auf ein niederländisches Problem. Im Jahr 2019 verpflichtete ein Gericht die Regierung, den Stickstoffausstoß des Landes bis 2030 auf die Hälfte zu reduzieren. Das kleine Land ist nach den USA der zweitgrößte Agrarexporteur der Welt, die Landwirte sind hier eine Macht. Wütende Proteste der Bauern waren die Folge – und die Gründung der BBB.
Was den Deutschen das Heizungsgesetz, sind den Niederländern die Stickstoffauflagen
Heute, vier Jahre später, ist die BBB der Schnittpunkt der großen politischen Entwicklungen in Europa: der Schwäche der traditionellen Parteien der Mitte. Der Hang zum Populismus. Der Protest gegen als zu streng empfundene Klima- und Naturschutzauflagen. Was den Deutschen das Heizungsgesetz, sind den Niederländern die Stickstoffauflagen.
Eine Reise zu den Wurzeln der Partei, die sich Bewegung nennt, auf den Hof von Henk Wortelboer im Dörfchen Jipsingboertange, nur wenige Kilometer vor der Grenze zu Deutschland. Der Rasen vor dem stolzen Backstein-Wohngebäude ist sattgrün und akkurat gemäht, auf einem selbst gemalten Holzschild mit eigenem Dach steht groß der Familienname. Der 45-Jährige, graues Polohemd, durchdringend blaue Augen, ist Bauer in sechster Generation, wie er sagt, er hat sein ganzes Leben hier verbracht. „Ich bin Bauer mit Leib und Seele“, sagt er, „ich wollte nie etwas anderes machen.“
Wortelboer ist ein Mann der Tradition. Sein älterer Sohn heißt Gradus, wie sein Großvater. Der jüngere heißt Henk, wie er selbst. Wenn von ihnen keiner den Hof übernehmen wolle, sagt Wortelboer, dann eben Therese, die Mittlere. Gewählt hat er immer die Christdemokraten, den CDA – bis die Auflagen kamen. Der Stickstoff, der Luft und Böden in den Niederlanden belastet, stammt auch aus Verkehr und Industrie.
Intensive Landwirtschaft belastet Böden
Als größter Verursacher aber gilt die intensive Landwirtschaft. Von den 700 Mastkälbern, die in seinen Ställen stehen, soll Wortelboer ein Drittel abgeben. Die Pläne der Regierung sehen sogar vor, dass 3000 Landwirte, die in der Nähe besonders belasteter Naturschutzgebiete ansässig sind, ihre Höfe gegen eine Entschädigung ganz abgeben.
Henk Wortelboer hat schon einen Plan, falls die strengsten aller Auflagen durchgesetzt würden. „Dann“, sagt er, „würden wir auswandern und woanders neu beginnen.“ Schweren Herzens.
Doch zumindest diese gravierendsten aller Auflagen bleiben ihm und seinen Kollegen nach dem Rücktritt der Regierung und dem Sieg in der Provinz wohl erspart. „Wegen Stickstoff, Klima und Wasser wird hier niemand enteignet“, sagt Eddie van Marum bestimmt. Man sei nicht gegen Naturschutz, „aber der Stickstoffwert taugt allein nicht als Gradmesser für den Zustand der Natur.“ Was Umweltschützer und -schützerinnen allerdings anders sehen.
Die niederländische Flagge vor dem Haus von Bauer Wortelboer hing monatelang verkehrt herum, mit Blau nach oben. Wie früher auf den Schiffen, wenn sie in Not waren. Jetzt hat er sie wieder gedreht, mit Blau nach unten. Als Zeichen der Zuversicht. „Es sieht“, sagt Wortelboer, „alles wieder besser aus.“
BBB: Politisch schwer zu verorten
Und jenseits der Landwirtschaft? Wo die BBB politisch steht, ist auch für niederländische Politikwissenschaftler und -wissenschaftlerinnen noch nicht klar zu sagen. Ablehnend gegenüber Zuwanderung und Geflüchteten ist sie – ihnen aber auch nicht so feindlich gesinnt wie etwa der bekannte niederländische Rechtspopulist Gert Wilders mit seiner PVV. Skeptisch gegenüber der EU – aber ohne Fantasien über einen Austritt, der den Bauern stark schaden würde.
Auf der anderen Seite sind da auch als links geltende Forderungen, mehr Hilfen für sozial Schwache zum Beispiel. So entzieht sich die BBB den klassischen politischen Einordnungen. „Die BBB ist insgesamt eine Partei der Mitte“, sagt Harmen Binnema, Politikwissenschaftler an der Universität Utrecht, am Telefon, „aber mit einer auch populistischen Rhetorik.“
So betonen die BBB-Vertreter gern den Gegensatz zwischen Stadt und Land, zwischen den großen Zentren im Westen wie Amsterdam, Rotterdam und Den Haag, der „Randstad“, wie es hier heißt – und den agrarischen Weiten im Osten.
Das kann dann auch mal kämpferisch klingen: „Die 150 Abgeordneten in Den Haag haben keine Ahnung, wie es auf dem Land zugeht – und wie es im ganzen Land zugeht“, sagt Eddie van Marum. Aus den Ställen dringt das Muhen der Kälber herüber. „Das sind Leute aus der Großstadt, die nie etwas anderes gemacht haben als Politik“, sagt Bauer Wortelboer. „Die sind so losgeschlagen von der Realität, im Parlament dreht es sich nur um die Großstadt.“
Es sind Sätze, wie man sie auch aus anderen Ländern kennt – und die sich auch gegen die „Berliner Blase“, die „Eliten in Washington“ oder die Absolventen der „Grandes Écoles“ in Frankreich richten könnten.
In den Niederlanden treffen sie einen Nerv, weit über die Bauernschaft hinaus. Tubbergen ist eine gepflegte 20.000-Einwohner-Stadt bei Hengelo, ebenfalls nur wenige Kilometer vor der Grenze zu Deutschland. Gut 50 Prozent der Menschen haben hier im März für die BBB gestimmt, das ist der höchste Wert in den Niederlanden. „Die Bauern haben im Krieg die Städte gerettet. Die darf man jetzt nicht einfach abschaffen“, sagt Erna, eine Rentnerin, in der Fußgängerzone mit den kleinen Geschäften. „Hier ist in den vergangenen Jahren so viel schiefgelaufen“, sagt Chanel, eine junge Unternehmerin mit einer kleinen Internetagentur. „Ich kenne hier niemanden, der im März nicht die BBB gewählt hätte.“
Marga, Intensivkrankenschwester, blonde Kurzhaarfrisur, steht unter dem Vordach der Slagerij Niels und wartet mit der Tasche in der Hand auf das Ende des Regens. „Die Vorsitzende, Caroline van der Plas, das ist jemand, mit dem sich die Menschen identifizieren können“, sagt sie. „Die hat die Beine auf der Erde.“ Van der Plas könne die niederländische Politik erneuern – „und das ist dringend nötig“.
Tatsächlich haben in den letzten Jahren gleich mehrere Skandale und Missstände die Niederlande erschüttert und das Vertrauen in die Politik untergraben. Da haben niederländische Behörden zum Beispiel von 20.000 Eltern, vor allem von Müttern oder Vätern mit migrantisch klingenden Namen, zu Unrecht Kindergeld zurückgefordert, oft Zehntausende Euro, und die Betroffenen so in Verzweiflung und Unglück gestürzt.
Und erst in diesem Jahr hat die Regierung die Gasförderung in der Provinz Groningen nach mehr als 60 Jahren endgültig eingestellt. Während Unternehmen und Staat von den Einnahmen üppigst profitierten, warten Tausende Opfer der Erdbeben in diesem Gebiet bis heute auf die Entschädigung. In all der jüngsten Zeit, seit 2010, blieb Mark Rutte Ministerpräsident. Von „Rutte-Müdigkeit“ sprachen die Demoskopen zuletzt, wenn sie den Blick vieler Menschen auf die Regierung beschrieben.
Die neue Ministerpräsidentin?
Die Frau, auf die sich nun die Hoffnungen ihrer Anhänger richten, ist Caroline van der Plas, Vorsitzende der BBB. 56 Jahre alt, eine raumgreifende Erscheinung in oft wallender schwarzer Kleidung, verwitwet, bis 2019 Fachjournalistin für Agrarthemen. Bei ihren Auftritten singen ihre Anhänger „Sweet Caroline“, wenn sie die Bühne betritt. Als die Koalition zerbrach und Rutte vergangene Woche zurücktrat, war sie mit ihrer Mutter im Urlaub in den Südniederlanden. Bevor sie sich äußerte, besuchte sie am nächsten Tag erst ein Konzert von André Rieu.
Ob sie jetzt Ministerpräsidentin werden wolle? Nein, sie glaube, das sei nichts für sie, beteuerte sie gegenüber der Zeitung „Trouw“: „Man gerät in eine völlig andere, unwirkliche Welt.“
Die Frage ist nur, ob dieser Satz Bestand hat. In den Umfragen lag die BBB zuletzt mit bis zu 18 Prozent gemeinsam mit der rechtsliberalen VVD an der Spitze. Dass die Bauern-Bewegung in einem Wahlkampf, in dem es vor allem um Migration geht, genauso dominieren könne wie im März, daran hat Politikwissenschaftler Binnema zwar Zweifel. Zudem bietet das neue Bündnis von Sozialdemokraten und Grün-Linken mit dem EU-Vize Frans Timmermans jetzt einen bekannten und durchaus populären Spitzenkandidaten auf. Dennoch dürfte an der BBB nach den Wahlen am 22. November schwerlich etwas vorbeigehen.
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Offen ist jedoch, wie eine neue Regierung dann die Stickstoffvorgaben von EU und Gericht erfüllt – und wer all die Posten ausfüllt, die die BBB dann wohl zu besetzen haben wird. Eddie van Marum, der Abgeordnete aus Groningen, sagt, er sei schon gefragt worden, ob er wohl nach dem Herbst nach Den Haag wechseln würde. Er hat abgelehnt. Er sei den Menschen in seiner Provinz noch etwas schuldig, sagt er. „Und das will ich erst mal erfüllen.“ (RND)