Die Zahl der Todesopfer rechter Gewalt in NRW muss erhöht werden. Dies haben Experten einer Projektgruppe mit Wissenschaftlern und Kriminalisten herausgefunden.
Aufarbeitung des LKAMehr Opfer rechter Gewalt in NRW als bisher bekannt
Es war abends, an einem Donnerstag im Juli 1999. Erol I. war wie üblich noch alleine im Büro des kurdischen Kulturvereins im Kölner Stadtteil Kalk. Der 33-Jährige war Bekannten zufolge so etwas wie der Motor und die gute Seele des Arbeitermigranten-Vereins. Er organisierte Veranstaltung und ging gelegentlich sogar mit den Kindern der Mitglieder auf den Spielplatz. Als Kellner kochte er Tee und ab und zu sogar das Essen.
Als zwei Männer in den Raum stürmten, entwickelte sich vermutlich ein kurzes Handgemenge. Aber I. hatte keine Chance gegen die Attentäter, die mit Messer auf ihn einstachen. Er starb. Die Polizei vermutete, dass die Täter mit den rechtsextremen „Grauen Wölfen“ sympathisierten und nach der Tat in die Türkei geflohen waren.
Messerattentat in Kalk war „politisch motiviert“
Einer der Täter hat sich später bei der Polizei gestellt, die ihm aber bereits auf den Spuren gewesen sein soll. Als Motiv hielt das Gericht damals „politische Hintergründe“ zwar für denkbar – aber nicht für erwiesen. Statistisch ist die Tat bei der Polizei deshalb bis heute nicht als rechts motiviert erfasst.
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Jetzt, ein Vierteljahrhundert später, wird der Mord endlich als „politisch motiviertes Delikt“ eingestuft. Begangen wegen einer rechtsextremen „ausländischen Ideologie“. Der Fall ist einer von 25 Straftaten mit 30 Todesopfern aus den vergangenen 40 Jahren, die auf Anregung des nordrhein-westfälischen Innenministers Herbert Reul (CDU) noch einmal überprüft wurden.
Deutlich mehr Todesopfer rechter Gewalt als in der Polizeistatistik vermerkt
Ziel war es, die Gesamtzahl der Todesopfer rechter Gewalt zu ermitteln und die Statistiken nachträglich zu korrigieren. Denn während nach offizieller Zählung seit der Wiedervereinigung 113 Menschen durch Rechtsextremisten in Deutschland starben, waren der „Tagesspiegel“ und „Zeit online“ in eigenen Recherchen voriges Jahr auf 190 Todesopfer gekommen. Auch Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) hält demnach eine Zahl von ungefähr 200 Opfern für realistisch.
Sieben der geprüften Fälle in NRW bewertet die Projektgruppe aus Wissenschaftlern und Kriminalisten jetzt als „Taten mit einer politischen Tatmotivation“. In einigen Fällen sei eine entsprechende Korrektur in den polizeilichen Statistiken erforderlich. Bei drei der Taten war eine rechtsextremistische Motivation zwar schon bekannt, sie waren jedoch noch nicht entsprechend erfasst worden.
Bei Brandanschlag in Köln fehlen Verfahrensakten
Nur bei acht Gewaltdelikten wurde ein rechtsextremistischer Hintergrund ausgeschlossen. 17 Taten konnten von der Projektgruppe nicht abschließend aufgeklärt werden, etwa weil Justiz- oder Verfahrensakten nicht mehr verfügbar waren. So beispielsweise war es auch beim zweiten Fall aus Köln, einem Brandanschlag auf ein Übergangswohnheim im Stadtteil Humboldt-Gremberg im Januar 1994. Zehn Menschen wurden verletzt, die zwölfjährige Jasminka Jovanovic und ihre Großmutter Raina (62) starben wenige Wochen später an ihren Verletzungen.
Reul: „Aufarbeitung für die Hinterbliebenen wichtig.“
Ein Jahr hatte die Expertengruppe unter Leitung eines Politikwissenschaftlers ermittelt, dafür auch Gerichtsurteile und Verfahrensakten herangezogen. Insbesondere für die Hinterbliebenen sei die erfolgte Aufarbeitung wichtig, sagte Innenminister Reul bei der Vorstellung der Projektergebnisse: „Handelt es sich um Rechtsextremismus, soll er als solcher auch benannt und in der Statistik erfasst sein.“ Mit dem Projekt stelle man sich auch der „gesellschaftlichen Verantwortung als Polizei NRW“, ergänzte LKA-Leiter Ingo Wünsch.
Auslöser der Aufarbeitung war ein spektakulären Fall aus dem Jahr 2003, den das LKA damals neu als rechts motiviertes Tötungsverbrechen eingestuft hat. Der Neonazi Thomas A. hatte im Oktober 2003 in Overath bei Köln einen Rechtsanwalt, dessen Ehefrau und Tochter erschossen. Der Anwalt hatte bewirkt, dass der verschuldete Neonazi ein Gehöft verlor, auf dem er Treffen von Rechtsextremisten veranstaltet hatte.
Das Landgericht Köln hatte ihn 2004 zu lebenslanger Haft und anschließender Sicherungsverwahrunh verurteilt und im Urteil vermerkt, dass die nationalsozialistischen Vorstellungen des Mörders bei der Tat eine Rolle gespielt haben.