In Köln leben mehr als 400 Minderjährige, die immer wieder mit Straftaten auffallen.
Drogendeals mit 13 JahrenWie Marco auf die schiefe Bahn geriet – und was die Stadt gegen Jugendkriminalität tut
Als Marco fünf Jahre alt war, musste er ins Heim. Bei seinen Eltern – die Mutter Alkoholikerin, der Vater im Gefängnis – konnte er nicht mehr bleiben. Aber die Pflegefamilie, zu der er mit neun Jahren kam, konnte den entwurzelten Jungen nicht stabilisieren. Mit zwölf schwänzte Marco nahezu ständig die Schule. Er klaute in Supermärkten, missbrauchte die Notrufnummer für vermeintliche Scherze.
Weil er noch so jung war, gab es keine Maßnahmen des Gerichts. Lediglich das Jugendamt wurde informiert, während sich die Straftaten häuften. Neben weiteren Ladendiebstählen kamen ein Jahr später noch Sachbeschädigungen an geparkten Autos sowie eine Reihe von Drogendelikten dazu. Immer noch war Marco zu jung für die Gerichte.
Köln: „Haus des Jugendrechts“ will kriminelle Karrieren durchbrechen
Mit 14 gab es die ersten Körperverletzungen, die aktenkundig wurden. Bei Ladendiebstählen trug er eine Waffe bei sich. Er war jetzt strafmündig, aber nach Jugendstrafrecht, so konnten zumindest Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe ergriffen werden. Er erhielt eine Verwarnung des Amtsgerichts Köln und wurde zu 70 Stunden Sozialdienst verurteilt. Und er wurde aus der Pflegefamilie genommen, um ihn in einer „Inobhutnahme-Stelle“ des Jugendamtes mit strengen Kontrollen unterzubringen.
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Aber was helfen sollte, verschlechterte die Situation zum Teil sogar noch. Marco beging Straftaten mit anderen Jugendlichen, die In Obhut genommen worden waren. Permanente Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz kamen hinzu und das erste Raubdelikt.
Mit 15 Jahren schließlich wurde der Jugendliche ins Programm des „Kölner Haus des Jugendrechts“ aufgenommen. Hier arbeiten Polizei, Staatsanwaltschaft, Jugendhilfe und Jugendamt eng zusammen, um die kriminellen Karrieren von minderjährigen Mehrfachstraftätern zu unterbrechen oder zumindest die Zahl ihrer Straftaten zu reduzieren.
Köln: Jugendkriminalität steigt
Die Polizeiliche Kriminalstatistik in NRW weist als Mehrfachtatverdächtige Personen aus, die innerhalb eines Kalenderjahres fünf oder mehr Straftaten begehen. Auch immer mehr Kinder und Jugendliche werden hier erfasst. Besorgniserregende 23.610 Jugendliche und Heranwachsende zwischen acht und unter 21 Jahren fielen im vergangenen Jahr in diese Rubrik. Im Bereich des Polizeipräsidiums Köln waren es 442. Insgesamt steigt die Jugendkriminalität.
Für die Statistik spielt es keine Rolle, ob es sich im Einzelfall um Strafanzeigen wegen fünf Sachbeschädigungen an einem Tag oder fünf Raubüberfällen in zwölf Monaten handelt. „Für uns aber schon“, betont Kriminalhauptkommissar Bernd Reuther, Leiter des Jugendrechts-Projektes bei der Kölner Polizei: „Die Zahl ist nur ein erster Indikator für uns, mal nachzuschauen, was da los ist.“
In einer ersten „Auswertebesprechung“ diskutieren und analysieren alle beteiligten Behörden, „um wen genau es sich bei den Kindern oder Jugendlichen handelt“. Die Einzelaspekte würden dann bewertet und in einer Scoring-Liste zusammengezählt, sagt Reuther. Bei den Straftaten beispielsweise bekommen Raub und räuberische Erpressung nach einem Erlass des Innenministeriums den Faktor fünf, Körperverletzung werden vierfach gewertet und Ladendiebstahl einfach.
Zudem würden zahlreiche weitere Aspekte berücksichtigt, so Reuther. „Aus soziologischer Sicht beispielsweise die Frage: Gibt es im Umfeld der Personen womöglich Probleme oder Konstellationen, die dazu beitragen könnten, dass die kriminellen Aktivitäten weiter zunehmen und sich verfestigen?“ In der Gesamtschau entscheiden die behördlichen Kooperationspartner dann, ob es noch andere Möglichkeiten gibt oder ob die Betroffenen ins Programm aufgenommen und möglichst bald schon erste Gespräche mit ihnen geführt werden. Aktuell sind es in Köln 90 Jugendliche und Heranwachsende, nur vier davon sind Mädchen.
Köln: Stadt, Staatsanwaltschaft und Polizei arbeiten eng zusammen
Wer aufgenommen wird, dem wird in ersten Gesprächen deutlich gemacht, „dass wir ihn oder sie jetzt auf dem Radar haben“, sagt Reuther. „Dass wir zentral für ihn oder sie zuständig sind, dass es einen festen Sachbearbeiter bei der Polizei gibt, einen festen Ansprechpartner bei der Staatsanwaltschaft und bestens informierte Mitarbeitende beim Jungendamt, die auch immer wieder den Kontakt suchen werden.“ Was zukünftig als Straftaten auftrete, werde dann „Hand und Hand mit den anderen Ermittlungsbehörden möglichst schnell auch angeklagt“.
Dies alles werde den Teilnehmern des Programms „klipp und klar deutlich gemacht“. Denn vor allem Kinder und Jugendliche müssten die Konsequenzen ihres Handels möglichst sofort spüren, weiß Reuther. Alles geschehe jedoch mit dem Fokus darauf, „dass es aufhört. Dass die Betroffenen sich aus dem Sog der Kriminalität befreien können und eine Chance im Leben bekommen“.
Die erste Ansprache beeindrucke „nicht immer“, sagt Reuther und lacht. „Aber wir bleiben dann im Zweifel ja auch lange dran.“ In manchen Fällen sogar einige Jahre, in denen vielschichtig in Absprache etwa mit den zuständigen Sozialarbeitern agiert werde. Nicht nur die Betroffenen würden immer wieder kontaktiert, gelegentlich auch die Eltern oder der Freundeskreis. „Wir versuchen, immer präsent zu sein um mitzubekommen, was passiert“, erklärt Reuther.
Auch das Jugendamt intensiviere die Arbeit, biete den Jugendlichen oder der Familie Unterstützung an. Spreche bei Bedarf auch mit der Schule. „Aber wir sind auch gnadenlos, wenn wir feststellen, dass offenbar nichts hilft und wir an einem Punkt angekommen sind, wo wohl nur noch die Untersuchungshaft hilft“. Was die Erfolgs- oder Rückfallquote betrifft: „Fifty-fifty“, sagt der Kriminalhauptkommissar. Die erfolgreiche Hälfte begehe entweder gar keine Straftaten mehr oder schaffe es zumindest, „innerhalb eines Rahmens zu bleiben“, sagt Reuther. „Das bedeutet für mich, der fällt zumindest nicht mehr in das alte Schema zurück, hat beispielsweise zwar noch einmal in einem Laden geklaut, aber begeht keine Körperverletzungen oder Raubüberfälle mehr.“
Welchen Anteil seine Arbeit an solchen Erfolgsgeschichten habe, könne er schwer einschätzen, sagt Reuther. „Eine neue Freundin beispielsweise oder eine Zukunftsperspektive durch eine Ausbildungsstelle, vieles kann da mitwirken – das darf man nie vergessen.“ Warum er den Job mache? „Es ist schon das Gefühl, etwas bewegen zu können“, sagt der Kriminalbeamte. Und dass es Sinne habe, dass sich die Polizei bei Kindern und Jugendlichen, die noch in ihrer Entwicklungsphase seien, besonders einsetze. „Das ist es, was mich motiviert und antreibt.“