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Clan-Kämpfe im Ruhrgebiet„Die Gefahr, dass der Konflikt weiter eskaliert, ist gerade sehr, sehr groß“

Lesezeit 5 Minuten
17.06.2023, Nordrhein-Westfalen, Essen: Polizisten bewachen Mitglieder einer der beteiligten Gruppen einer Schlägerei in der Innenstadt. In der Nacht zum Samstag ist es dort zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen mehreren Gruppen gekommen. Hunderte Menschen hatten sich aus bislang ungeklärter Ursache im Innenstadtbereich versammelt, wie eine Polizeisprecherin sagte. Foto: Markus Gayk/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Polizisten bewachen Mitglieder einer der beteiligten Gruppen einer Schlägerei in der Essener Innenstadt.

Der brutal ausgetragene Konflikt zwischen Großfamilien in Castrop-Rauxel und Essen lenkt den Blick auf ein Problem, das bisher kaum Beachtung findet.

Es beginnt, nach allem, was man weiß, mit spielenden Kindern in Castrop-Rauxel. Aus Spielen wird Streit, Familien­mitglieder mischen sich ein, es kommt zur Schlägerei. Polizei­beamte schreiten ein, die Sache löst sich auf. Aber der Funke ist geschlagen. Aus dem Kinderspiel wird ein Großeinsatz mit 700 Polizeibeamten in zwei Städten, bei dem 462 Personen kontrolliert und ein Mensch lebensgefährlich verletzt wird. Es geht um Rache, es geht um einen neuen Player auf der Parallel­weltkarte, der bislang kaum beachtet wurde.

Der Kinderstreit ist Auslöser, aber nicht Ursprung des Konflikts

Es ist Dienstag vergangener Woche, als sich der eigentlich banale Vorfall zwischen einem libanesischen und einem syrischen Jungen ereignet. Die Familien der beiden Elfjährigen leben im selben Wohnblock, die Stimmung ist offenbar bereits aufgeheizt, der Kinderstreit also nur der Auslöser, nicht Ursprung des Konflikts. Am Donnerstag eskaliert er: Mindestens 50 Personen stehen sich am Nachmittag gegenüber, angestachelt, Worte fallen, Fäuste fliegen. Und mindestens ein Messer wird gezückt. Ein 23 Jahre alter Syrer bekommt es in den Bauch gerammt, er muss später notoperiert werden. Mittlerweile befindet sich der Mann auf dem Weg der Besserung.

Die Spirale der Gewalt aber dreht sich weiter. Einen Tag später stehen sich in Castrop-Rauxel erneut zig Männer gegenüber. Wildwest­attitüde im Revier, die Polizei verhindert Schlimmeres und nimmt bei ihrer Personen­kontrolle eine Maschinen­pistole in Beschlag. Hier scheint etwas aus den Fugen zu geraten.

Polizisten bewachen Mitglieder einer anderen der beteiligten Gruppen einer Schlägerei in der Innenstadt.

Polizisten bewachen Mitglieder einer beteiligten Gruppen einer Schlägerei in der Essener Innenstadt.

Am Freitagabend dann macht sich eine gewaltige und gewaltbereite Gruppe von Libanesen im 25 Kilometer entfernten Essen auf zu einem syrischen Restaurant. Diesmal sind es mehrere Hundert Männer, die aufeinander losgehen, aufgewiegelt durch aggressive Mobilmachung in den sozialen Medien. Das Restaurant wird verwüstet, die Massen prügeln sich, vier Polizei­beamte werden bei ihrem Einsatz verletzt, ein Hubschrauber kreist über dem Stadtzentrum.

Kräfteverhältnis im Ruhrgebiet ändert sich

Ein Anruf bei einem, der sich mit der Sache auskennt: Mahmoud Jaraba vom Erlanger Zentrum für Islam und Recht in Europa, angesiedelt an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Seit einigen Jahren beobachten Experten wie Jaraba Zusammenstöße zwischen alteingesessenen libanesischen Clans und dem immer dichter werdenden Netz syrischer Großfamilien. „Die Flüchtlings­ströme seit 2015 haben viel geändert in der Städtestruktur“, sagt Jaraba. Hier die Libanesen, die seit den 1980er-Jahren im großstädtischen Milieu ihr überwiegend legales Business etabliert haben. Da die Syrer, die Neulinge, die im selben Teich fischen, Restaurants, Cafés, Shisha-Bars eröffnen, ganz so wie die Libanesen. Konkurrenz kann das Geschäft beleben – oder es vergiften.

Allein in Essen leben derzeit an die 18.000 Menschen aus Syrien. Ihnen gegenüber stehen rund 7000 Zuwanderer aus dem Libanon. Vor zehn Jahren waren sie noch die deutlich größere Bevölkerungs­gruppe, aber die Kräfte­verhältnisse haben sich verkehrt.

Machtverschiebung in der organisierten Kriminalität

Es geht hier also um Marktanteile, aber auch um eine Macht­verschiebung im Bereich der organisierten Kriminalität. Lag der Rauschgifthandel vor 20 Jahren noch in der Hand der italienischen Mafia oder türkischen Gruppierungen, haben heute kurdisch-libanesische Clans an Rhein und Ruhr ihre eigenen kriminellen Reviere abgesteckt. Seit ein paar Jahren treten auch Gangs aus Syrien, dem Irak und Afghanistan auf den Plan.

Die Konflikte in der arabischen Unterwelt sind nicht neu, mitunter geraten die Gruppierungen aneinander. 2017 stürmte eine Truppe des Leverkusener Al-Zein-Clans die Teestube Olympia in Essen und verprügelte den Besitzer. Offenbar ging es um 5000 Euro. Das Opfer galt als Oberhaupt der irakisch-syrischen Gang Al Salam 313. Trotz großangelegter Razzia legten die beiden Parteien den Streit intern bei. Der Prozess gegen den Al-Zein-Mob endete mit marginalen Geldauflagen, weil das Opfer sich an nichts erinnern konnte. Abgehörte Telefonate legen nahe, dass Schweigegeld bezahlt wurde.

„Es muss harte Konsequenzen geben“

Ministerpräsident Hendrik Wüst betonte am Freitag, die schwarz-grüne Regierung tue alles, um an jeder Stelle die Sicherheit in diesem Land zu gewährleisten. „Was da in Castrop-Rauxel und in Essen sichtbar geworden ist, ist schlicht inakzeptabel“, sagte der CDU-Politiker. „Die Polizei ist vorbereitet, hat die Szene fest im Blick und duldet keine Gewaltexzesse.“

Mahmoud Jaraba fordert die Entscheidungsträger zum Handeln auf. „Wenn der Staat machtlos wäre, dann wäre das eine Katastrophe. Der Konflikt eskaliert weiter“, sagt Jaraba. Er benennt drei Schritte, um den Konflikt einzudämmen. Der erste: umfassende Ermittlungen gegen die kriminellen Strukturen innerhalb der syrischen und der libanesischen Clans. Der zweite: Härte zeigen. Die habe der Staat bis heute nicht an den Tag gelegt. „Es muss harte Konsequenzen geben – auch mit Abschiebungen. Das ist eine Lösung für diejenigen, die nicht lernen wollen, die sich nicht integrieren wollen“, sagt Jaraba.

Der dritte Schritt: eine Ausweitung der Präventions­arbeit. „Bis heute passiert in diesem Bereich sehr wenig. Wir müssen einerseits hart gegen die kriminellen Elemente vorgehen, aber müssen für die Mehrheit der Clan­mitglieder, die nicht kriminell sind, auch eine Tür öffnen.“ Das sind jedoch Maßnahmen, die teilweise erst auf der Langstrecke ihre Wirkung entfalten werden. In Monaten, vielleicht Jahren.

Flächenbrand der Clangewalt droht

Bereits 2019 warnte NRW-Innenminister Herbert Reul im „Kölner Stadt-Anzeiger“: „Wir haben Anzeichen dafür, dass sich Großfamilien aus dem irakisch-palästinensisch-syrischen Bereich formieren, die versuchen, die bisherigen Platzhirsche zu verdrängen.“ Dies gelte insbesondere im Bereich des illegalen Rauschgifthandels, führte der CDU-Politiker aus. Im Gegensatz zur italienischen Mafia, die gerne im Verborgenen arbeite, „sind die Clans da schon deutlich weniger lichtscheu. Und die neuen Gruppierungen sind vermutlich noch gewaltbereiter.“ Und trotzdem gingen vier weitere Jahre ins Land, in denen die Gruppierungen nur wenig Beachtung fanden.

Kurzfristig hilft wohl nur massive Polizei­präsenz – und die verkappte Hoffnung, dass ein wie auch immer gearteter „Frieden“ unter den Familienclans gefunden wird. Mahmoud Jaraba ist nicht wirklich optimistisch. „Die Gefahr, dass der Konflikt weiter eskaliert, ist gerade sehr, sehr groß“, so Jaraba. „Vielleicht geht es sogar auf die nächste Stufe.“ Es droht ein Flächenbrand.