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Starker ZulaufTafel-Chef: „Wer zu uns kommt, dem geht es sehr schlecht“

Lesezeit 5 Minuten
Ein ehrenamtlicher Helfer arbeitet in der Tafel Cottbus. Die Tafeln in Deutschland haben noch nie so vielen bedürftigen Menschen geholfen wie derzeit.

Der Andrang bei den Tafeln in Essen und andernorts ist groß.

Der Chef der Essener Tafeln, Jörg Sartor, hat einen Aufnahmestopp verhängt. Mehr als fünfeinhalbtausen Menschen könne die Tafel aus logistischen Gründen nicht versorgen. Der Bedarf liege aber viel höher.

Herr Sartor, wie dramatisch ist die Lage an den Tafeln im Hinblick auf die explodierenden Lebensmittelpreise?

Jörg Sartor: Dramatisch, das Wort mag ich nicht so sehr. Denn, wer zu uns kommt, dem geht es sehr schlecht. Für diese Menschen ist das Leben ohnehin dramatisch. Außerdem sei hier betont, dass die Lebensmittelversorgung eigentlich Sache des Staates ist. Die Tafeln sind nur dazu da, diese Hilfe zu ergänzen. Inzwischen aber hat die Zahl der Hilfsbedürftigen stark zugenommen. Neben ukrainischen Flüchtlingen melden sich immer mehr Niedriglöhner, die ebenfalls nicht mehr über die Runden kommen wegen der hohen Lebensmittelpreise.

Können Sie die Zuwächse beziffern?

Die Anfragen sind sicher um mehr als 20 Prozent angestiegen. Der Ukraine-Krieg und die steigende Anzahl von neuen Sozialfällen haben dazu geführt, dass die Essener Tafel einen Aufnahmestopp verhängen musste. Mehr als 1600 Berechtigungskarten für bedürftige Familien sind nicht zu machen. Das heißt: Die Essener Tafel versorgt zirka fünfeinhalbtausend Menschen, für mehr reichen aus logistischen Gründen unsere Kapazitäten nicht. Wir bräuchten größere Räumlichkeiten, um mehr Leute aufnehmen zu können.

Wie macht sich der Ukraine-Krieg bemerkbar?

Gerade in der ersten Phase des russischen Angriffs auf die Ukraine gab es einen enormen Zulauf. Normalerweise bitten mittwochs bis zu 40 Männer und Frauen bei uns um Aufnahme in die Tafelliste, im Juni meldeten sich gut 80 Ukrainer wöchentlich. Am 1. Juli haben wir von 128 freien Plätzen 124 an Flüchtlinge aus der Ukraine vergeben. Damit war die Tafel voll bis oben hin. Derzeit können wir keine weiteren Migranten aus dem Kriegsgebiet aufnehmen.

Handelt es sich um einen ähnlichen Ausländerstopp wie seinerzeit im März 2018, der bundesweit Schlagzeilen machte?

Auf keinen Fall, aber derzeit können wir keine weiteren Hilfsbedürftigen aufnehmen – ganz gleich welcher Herkunft.

Mit Job weniger als ohne

Was muss sich ändern?

Hätten wir bessere Räumlichkeiten, könnten wir ein Drittel mehr an armen Menschen bedienen. Aber auch dann wäre es nicht genug. Inzwischen kommen auch Leute zu uns, die einen festen Job haben, und trotzdem nicht über die Runde kommen. Wir erleben mittlerweile, dass etwa Alleinverdiener einen Lebensmittelantrag für ihre Familie stellen. Da stellt sich heraus, dass sie weniger Geld zur Verfügung haben, als staatliche Leistungsempfänger. Beispiel Kindergartenbeiträge. Der Geringverdiener muss die Sätze selber zahlen, der Hartz-IV-Empfänger nicht. Miete, Krankenkasse, Schulspeisung, die Fahrkarte für den ÖPNV – all diese Dinge zahlt oder bezuschusst der Staat für Erwerbslose, aber nicht für jene, die leicht über dem Mindestlohn liegen. Natürlich gibt es auch jene Arbeitnehmer, die beim Amt eine Aufstockung ihrer Bezüge beantragen könnten. Das machen aber viele nicht.

Warum nicht?

Sicherlich spielt die Scham eine Rolle, hilfsbedürftig zu sein. Viele sind einfach zu stolz, manchen aber ist der Gang zu den Sozialbehörden zu beschwerlich. Versuchen Sie mal beim Jobcenter einen Termin zu bekommen.

Manche Tafeln klagen über einen Rückgang des Spendenaufkommens, wie sehen Sie das?

Es gibt zwei Sorten von Spenden. Zum einen die finanziellen Zuwendungen, zum anderen die Lebensmittel. Bei Letzteren ist es weniger geworden. Das hat einen einfachen Grund. Wir arbeiten zu 90 Prozent mit Frischware. Obst, Gemüse, Brot. Und wenn diese Dinge sich verteuern, dann kauft der Händler weniger ein. Deshalb bleibt dann für uns weniger übrig. Wenn die Salatgurke aktuell 1,50 Euro kostet, bekommen wir weniger. Kostet die Gurke im Sommer gerade mal 30 Cent, bekommen wir viel mehr von der Ware, die nicht über den Verkaufstresen geht. Normalerweise gehen die Spenden nur in den kalten Monaten zum Jahresbeginn zurück. 2022 aber haben wir allerdings über das ganze Jahr einen massiven Schwund zu verzeichnen.

Und wie steht es um die Geldspenden?

Finanziell erfolgt genau das Gegenteil. Viele Spender soldarisieren sich angesichts der Inflation, der hohen Lebensmittel- und Energiepreise sowie dem Krieg in der Ukraine noch stärker mit den Armen der Gesellschaft. Wir haben inzwischen 30 Gönner, die uns die 300 Euro des Energiezuschusses mit dem Hinweis gespendet haben, wir brauchen nix aus der staatlichen Gießkanne, das Geld soll gerecht an Bedürftige verteilt werden.

Monatlich 1500 Euro für Strom, Sprit und Gas

Das sind doch positive Signale, oder nicht?

Teils, teils. Im gesamten Kontext stellt sich doch die Frage, wozu ist die Tafel da? Wir sind nicht dazu da, jene zu versorgen, die der Staat vergessen hat. So etwa Rentner und Rentnerinnen, die leicht über dem Grundsicherungssatz liegen, und alles selbst bezahlen müssen, obschon sie die explodierenden Energiepreise nicht begleichen können. Auch wir als Tafel müssen monatlich 1500 Euro mehr für Strom, Sprit und Gas aufwenden.

Das Land NRW will nun die Tafeln mit vier Millionen Euro unterstützen, reicht diese Summe aus, um die Not zu lindern?

Grundsätzlich bin ich gegen eine staatliche Unterstützung.

Warum?

Zum einen geht es um die Unabhängigkeit von staatlichen Einflüssen. Zweitens: Die Politiker machen sich doch selber lächerlich. Denn eigentlich ist es ihre Aufgabe die bedürftigen Menschen ausreichend zu versorgen. Viel lieber wälzt man das Problem auf die Tafeln ab und beruhigt das schlechte Gewissen durch eine überschaubare Finanzspritze.

Was wäre besser?

In dieser Ausnahmesituation sollte die öffentliche Hand für arme Menschen in unserem Land zumindest zeitweilig die Grundnahrungsmittel direkt subventionieren. Wie gesagt: Die Tafeln sind nur dazu da, ganz besondere Härten abzumildern.