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Kinderarmut in NRWGrünen-Chef verlangt höhere Zuschüsse für Schulessen

Lesezeit 8 Minuten
Grünen-Chef Tim Achtermeyer ist bei einer Veranstaltung am Rednerpult zu sehen.

Grünen-Chef Tim Achtermeyer

Tim Achtermeyer (29) ist einer der beiden Landesvorsitzenden der NRW-Grünen. Im Interview spricht er über Kinderarmut, Schulpolitik, das Tötungsdelikt in Freudenberg und das Styling von Politikern.

Der Chef der NRW-Grünen, Tim Achtermeyer, hat die Landesregierung aufgefordert, mehr Geld für den Kampf gegen Kinderarmut auszugeben. So sei wegen der hohen Inflation bei den Lebensmitteln auch die Zubereitung von Schul- und Kitaessen deutlich teurer geworden, sagte der 29-Jährige. Das Land müsse dafür einen Inflationsausgleich zahlen. Ein entsprechender Kabinettsbeschluss von Schwarz-Grün dazu steht noch aus.

In der neu entfachten Diskussion um das Schulsystem in NRW sprach sich der Parteichef dagegen aus, alte „Glaubenskriege“ zu führen. Vielmehr sollten die vorhandenen Strukturen finanziell besser ausgestattet werden und die Schulen mehr Gestaltungsfreiräume bekommen.

Achtermeyer warnt vor „reflexhaften Forderungen“ im Fall Freudenberg

Mit Bezug auf die aktuelle Debatte um ein Herabsetzen des Alters der Strafmündigkeit nach der Tötung einer Zwölfjährigen in Freudenberg plädierte Achtermeyer für einen analytischen Blick auf Präventionsmaßnahmen. Den Fall selbst kommentierte er als „unfassbar tragisch“. Von reflexhaften Forderungen solle man aber absehen.

Der Politiker aus Bonn äußerte sich auch zu der Frage, ob Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) sich auf Staatskosten die Haare stylen lassen darf. Er finde das ok, sagte Achtermeyer: „Schließlich repräsentiert er das Land Nordrhein-Westfalen“.


Herr Achtermeyer, jedes fünfte Kind in NRW ist armutsgefährdet. Die aktuell hohe Inflation verschärft das Problem. Wie kann Schwarz-Grün in NRW gegensteuern?

Tim Achtermeyer: Wir brauchen einen Paradigmenwechsel. Den gibt es nur mit einer auskömmlichen Kindergrundsicherung auf Bundesebene. Wir haben einen empirischen Bedarf von 12 Milliarden Euro für die Kindergrundsicherung ermittelt. Die schwarz-grüne Landesregierung wird sich im Bund dafür einsetzen, dass die Kindergrundsicherung kommt. Das steht auch so in unserem Koalitionsvertrag. Denn Familien und besonders Alleinerziehende mit geringem Einkommen leiden besonders unter steigenden Preisen. Viele Kinder gehen morgens ohne Frühstück aus dem Haus und haben kein Geld, um das Mittagessen in der Schule zu bezahlen.

Arme Familien schämen sich

Aber der Staat zahlt Bürgergeldbeziehern doch die Kosten dafür.

Auch Familien, die kein Bürgergeld beziehen, haben oft Bedarf an Unterstützung und zum Beispiel einen Anspruch auf einen Kindergeldzuschlag. Aber das wissen viele nicht und beantragen das Geld nicht. Manche haben auch Angst vor dem bürokratischen Aufwand oder schämen sich, Unterstützung zu beantragen. Deswegen müssen wir das Prinzip umkehren. Arme Familien dürfen nicht als Bittsteller behandelt werden. Ihnen sollte die finanzielle Hilfe proaktiv überwiesen werden, ohne dass sie es aktiv und umständlich beantragen müssen.

Was sollte das Land unternehmen?

Wir können ergänzend unterstützen, indem wir zum Beispiel die soziale Infrastruktur in der Beratung stützen und ausbauen. Bei der Finanzierung des Mittagessens in Kitas und Schulen sollte das Land einen Inflationsausgleich zahlen. Wir haben derzeit eine Inflation von zwanzig Prozent bei Lebensmitteln. Ich setze mich weiterhin dafür ein, dass das Land diesen Zuschuss in diesem Jahr gewährt.

Landeskantinen binden regionale Bioanbieter mit ein. Sollte das Land nicht auch beim Schulessen einen Bio-Standard einfordern?

Klar ist: Wenn das Land eine höhere Qualität einfordert, muss es sich an den Kosten beteiligen. Wir Grünen wollen eine Transformation der bäuerlichen Landwirtschaft, die das Tierwohl verbessert und den Pestizideinsatz verringert. Dazu zählt auch, dass öffentlichen Kantinen an dieser Transformation teilhaben. Meine Erwartung ist, dass diese Transformation von der öffentlichen Hand unterstützt wird.

Wir sollten nicht einen Glaubenskrieg 2.0 führen, sondern über die Qualität des Unterrichts reden
Tim Achtermeyer, Landesvorsitzender der NRW-grünen

In der SPD ist die Debatte über das Schulsystem wieder aufgeflammt. Was halten sie von der Forderungen nach einer Schule für alle?

Dieser Glaubenskrieg wurde 20 Jahre lang geführt und hat die Schulen nicht weitergebracht. Wir sollten nicht einen Glaubenskrieg 2.0 führen, sondern über die Qualität des Unterrichts reden. Wir brauchen bessere Ausstattung, saubere Toiletten und mehr Freiheiten für Schulen, den Druck aus Lehrplänen zu nehmen. Viele Kinder leiden aktuell unter einer zu hohen Belastung. Zudem müssen wir Schulen in Brennpunkten noch besser unterstützen. Die Grünen haben die Landtagswahl 2017 auch wegen der Schulpolitik verloren. Kann man mit Schulpolitik auch Wahlen gewinnen – oder nur verlieren?

In diesen Kategorien denke ich nicht, dafür ist Bildungspolitik viel zu wichtig. Wir müssen die Schulen so aufstellen, dass jedes Kind die besten Bildungschancen bekommt. Wer hier nur an den nächsten Wahlkampf denkt, wird der Bedeutung des Themas nicht gerecht.

Das ist nicht die Antwort auf die Frage.

Ich bleibe bei meiner Antwort.

Sie haben vor der Wahl versprochen, mit den Grünen die Obdachlosigkeit in Nordrhein-Westfalen bis 2030 beenden zu wollen. Ist das realistisch?

Das ist eine humanitäre Verpflichtung und wir müssen alles in unserer Macht Stehende tun, damit wir das hinbekommen. Das Ziel 2030 bleibt. Manche Kommunen machen schon länger sogenannte „Housing first“ Projekte. Wir haben auch in den Koalitionsvertrag geschrieben, dass unsere Antwort auf Obdachlosigkeit ist, die Menschen direkt von der Straße in eine eigene Wohnung zu holen. Dabei muss man sie eng begleiten. Jetzt sind die Bundesbauministerin und die Landesbauministerin gefordert, Wohnungen dafür zu bauen. Da wünsche ich mir mehr Engagement.

Müsste man Räumungsvollzüge in Zeiten der Inflation nicht aussetzen?

Vermieter haben eine soziale Verantwortung, das derzeit nicht zu tun. Ich hoffe, dass sie dieser Verantwortung auch gerecht werden. Denn es gibt viele Menschen, die mit der steigenden Inflation unter die Armutsgrenze fallen und womöglich ihre Miete nicht mehr zahlen können. Wenn wir sehen, dass es da einen enormen Trend zu Räumungen gibt, muss die Politik entgegensteuern.

Zuletzt stritten sich die Grünen und die CDU in NRW wegen Özdemirs Tierwohl-Gesetz. Wie ist die Stimmung in der Koalition jetzt?

Wir sind zwei unterschiedliche Parteien, respektieren aber die Perspektive des anderen und versuchen gemeinsam, an der besten Lösung zu arbeiten. Cem Özdemir holt mit seinem Vorschlag die Versäumnisse der Vorgängerregierungen nach und packt die Transformation der Tierhaltung an. Das staatliche Tierhaltungskennzeichen und die Hilfen in Höhe von einer Milliarde Euro sind ein erster wichtiger Schritt, um die Lebensbedingungen für Schweine in der Nutztierhaltung zu verbessern und den Wandel der Landwirtschaft sozial voranzutreiben. Das neue Kennzeichen schafft Transparenz für Verbraucherinnen und Verbraucher, die so auf einen Blick erkennen, wie Tiere gehalten werden. Und Bäuerinnen und Bauern, die für ihre Tiere mehr Platz schaffen und weniger Tiere zu besseren Bedingungen halten, werden wir bei dieser Leistung unterstützen.

Die CDU-Landwirtschaftsminister inszenieren gerade einen unnötigen Showdown vor der Agrarministerkonferenz, der den Bäuerinnen und Bauern wenig hilfreich ist. Stattdessen sollten sich auch entsprechende Ministerinnen und Minister aktiv dafür einsetzen, dass Bundesfinanzminister Lindner ausreichend Geld für die Transformation der bäuerlichen Landwirtschaft bereitstellt.

Ihre Kollegin Verena Schäffer sagte letztens: „Vielleicht sind wir Grüne für die CDU manchmal auch ein bisschen anstrengend, weil wir immer alles gern dreimal diskutieren wollen.“ Wie anstrengend ist die CDU für die Grünen?

Wir fordern uns gegenseitig heraus, aber in einem konstruktiven Rahmen. Ich halte das für einen guten Umgang miteinander.

Ist Schwarz-Grün weniger anstrengend als die Ampel in Berlin?

In der Kategorie anstrengend oder weniger anstrengend denke ich nicht. Es geht ja darum, was wir in Nordrhein-Westfalen erreichen können und wie wir die Probleme hier lösen können. Unser erklärtes Ziel ist es, NRW zur ersten klimaneutralen Industrieregion Europas zu machen. Da finde ich, dass wir als schwarz-grüne Koalition gute Arbeit leisten. Aber auch die Ampel, die in äußerst schwierigen Zeiten regiert, hat einiges auf den Weg gebracht.

Für den Ausbau der Windenergie wurden große Abstriche beim Artenschutz gemacht. Ist das in Ordnung für Sie?

Die größte Bedrohung der Arten ist der Klimawandel. Deshalb muss ein Wandel der Energieversorgung Priorität Nummer eins sein. Aber die Artenkrise ist die zweite große ökologische Krise, die wir derzeit haben. Straßenneubauprojekte müssen weiter auf Folgen für Arten und Klima geprüft werden, eine Planungsbeschleunigung für zehnspurige Autobahnen auf Kosten der Umwelt halte ich für falsch.

Die großen Krisen kosten viel Geld und rauben der Politik die Gestaltungsmöglichkeiten. Wo soll das Geld für grüne Projekte herkommen? Müssen alle Förderprogramme auf den Prüfstand?

Wir müssen vor allem die klimaschädlichen Subventionen prüfen, beispielsweise das Dienstwagenprivileg. Es ist wie in jedem Haushalt: Wenn man knapp bei Kasse ist, muss man priorisieren.

Bei welchen Programmen erkennen Sie ansonsten noch Änderungspotenzial?

Wir laufen derzeit auf die Haushaltsverhandlungen zu. Die führen wir aber in der Koalition, nicht im „Kölner Stadt-Anzeiger“.

Zu Freudenberg: „Die Strafmündigkeit herunterzusetzen, halte ich für den falschen Weg“

Nach der Tötung einer Zwölfjährigen in Freudenberg durch Gleichaltrige gibt es eine Debatte um die Reform der Strafmündigkeit. Was halten Sie von der Diskussion?

Der Fall Freudenberg ist unfassbar tragisch. Wir müssen jetzt die Ermittlungen abwarten und dann analysieren, welche Schlussfolgerungen zum Beispiel bei der Prävention nötig sind. Die Strafmündigkeit herunterzusetzen, halte ich für den falschen Weg und finde die reflexhaften Forderungen nach solchen Fällen auch nicht zielführend.

Die Landesregierung hat im vergangenen Jahr rund 10.500 Euro für Make up-Artists, Visagisten oder Haarstylings bezahlt. Ist es für Sie okay, wenn Politiker sich auf Staatskosten stylen lassen?

Es muss im Rahmen bleiben. Wenn ein Ministerpräsident bei besonderen Gelegenheiten Hilfe beim Styling in Anspruch nimmt, finde ich das okay. Schließlich repräsentiert er das Land Nordrhein-Westfalen. Ab dem 1. Mai gilt das 49-Euro-Ticket. Planen Sie ein günstigeres Ticket für Sozialhilfeempfänger?

Wir müssen aus meiner Sicht auch das 49-Ticket rabattieren. Das Ziel muss sein, dass wir unter die Summe kommen, die nach dem Bürgergeldsatz für Mobilität zur Verfügung steht. Das sind 45 Euro.

Können Sie eine ungefähre Zahl sagen? Die SPD in Nordrhein-Westfalen fordert ein 29-Euro-Ticket für Studierende, Auszubildende und Sozialticketempfänger sowie einen kostenlosen ÖPNV für Schüler.

Der Preis muss so niedrig wie möglich sein. Das 49-Euro-Ticket ist ein Quantensprung in der Mobilität für viele Menschen. Aber für diejenigen, die soziale Unterstützung brauchen und die von der Krise am stärksten betroffen sind, sind 49 Euro einfach zu viel.


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