Seit dem Beginn des Ukrainekrieges liefert Belgien drastisch mehr Gas nach NRW. Die Leitungen müssten ausgebaut werden, fordert NRW-Europaminister Nathanael Liminski (CDU) - alles andere wäre „Torheit“.
Kritik an BundeskanzlerNRW-Minister fordert Zusagen für mehr Gas aus Belgien
Herr Liminski, Belgien hat seit dem Beginn des Ukrainekrieges die Gaslieferungen nach Deutschland massiv erhöht: Von knapp 1,9 Milliarden Kubikmeter in 2021 auf 26,6 Milliarden im vergangenen Jahr, um die vierzehnfache Menge also. Immer wieder hat NRW im Bund deshalb darauf gedrungen, die Zusammenarbeit mit den Belgiern auch zukünftig deutlich zu forcieren. Lange Zeit ist nichts passiert, bis Bundeskanzler Olaf Scholz vor ein paar Tagen zum deutsch-belgischen Energiegipfel in Zeebrügge gereist ist. War das ein guter Tag für NRW?
Liminski: Die Landesregierung hat sich in den vergangenen Monaten intensiv dafür eingesetzt, dass die Bundesregierung bei der Gasversorgung nicht nur nach Norden schaut, sondern auch nach Westen, also nach Belgien und in die Niederlande. Der Besuch von Bundeskanzler Scholz ist insofern ein guter und lang erwarteter Tag gewesen, als dass die Aufmerksamkeit der bundesweiten Öffentlichkeit endlich auch auf diesen Aspekt der Energieversorgung gerichtet worden ist - nämlich die Potenziale im Westen. Das aber kann nur ein Anfang sein. Denn es war gleichzeitig auch ein ernüchternder Tag, weil der Bundeskanzler keine konkreten Zusagen mitgebracht hat. Darauf warten unsere Freunde in Belgien.
Was fehlte denn?
Eine verbindliche Zusage des Bundes für die langfristige Abnahme von zusätzlichem Gas respektive Wasserstoff aus Belgien, sodass sich Investitionen in zusätzliche Pipelineinfrastruktur seitens der Belgier lohnen.
„Leitungssysteme sind am Anschlag“
Deren Leistungssysteme sind am Anschlag, heißt es. Um die zusätzlichen Gasmengen dauerhaft liefern zu können, müsse etwa die vom Hafen Zeebrügge nach NRW führende Zeelink-Pipeline auf belgischer Seite ausgebaut und um 48 Kilometer erweitert werden. Stimmt das?
Ja, die dortigen Leitungen werden derzeit oft bis an den Rand des technisch Machbaren belastet. Die drastisch erhöhte Liefermenge kann nicht auf Dauer durch das vorhandene Pipeline-Netz fließen. Deshalb braucht es jetzt Entscheidungen und Zusagen des Bundes. Denn natürlich muss auch die Infrastruktur auf deutscher Seite passen. Dafür müssen spätestens im Sommer dieses Jahres entsprechende Regelungen im Netzentwicklungsplan der Bundesnetzagentur getroffen werden, der auch verbindlich festlegt, was an Infrastruktur in Deutschland benötigt wird. Seit letztem Sommer mahnen wir dies immer wieder an, bisher aber ist noch nichts geschehen. Die Bundesnetzagentur hat durch die Umleitung von Gasströmen aus dem Norden zwar kurzfristig die Möglichkeit geschaffen, den erhöhten Durchfluss auch im nordrhein-westfälischen Leitungsnetz aufzunehmen und die eingestellten russischen Gaslieferungen damit zu ersetzen. Diese Regelung gilt aber nur befristet bis zum Herbst, das schafft keine Planungs- und Investitionssicherheit. Die Möglichkeit, größere Mengen aufnehmen zu können, darf kein Ausnahmezustand bleiben. Das muss zur Normalität werden, alles andere wäre kurzsichtig und eine Torheit.
Warum zögert der Bund denn?
Es drängt sich der Eindruck auf, dass man deshalb so zurückhaltend ist, weil man Sorge hat, die neu aufgebaute Infrastruktur im Norden nicht auslasten zu können und dass sie damit unwirtschaftlich wird. Für uns hier in Nordrhein-Westfalen geht es aber erst einmal darum, dass die Versorgung sicher und bezahlbar ist. Vor der Energiekrise hat man uns vielfach vorhergesagt, es sei gar nicht gesichert, dass die Belgier bei diesem hohen Liefergrad bleiben. Weil es die Sorge gab, unsere Nachbarn würden das Gas im Zweifelsfall für den Eigenbedarf nutzen.
Aber genau das Gegenteil ist doch eingetreten.
Genau, wir konnten uns jederzeit darauf verlassen, dass man uns sicher mit Gas versorgt hat. Und zwar im maximalen Umfang dessen, was möglich war. Ob andere Lieferanten auch derartig an die Grenze des Genehmigten und darüber hinaus gegangen wären – ich bezweifle es. Unabhängig davon ist eine stärkere Westorientierung auch unter Umweltgesichtspunkten angezeigt: Die Häfen in Brügge, Antwerpen, Rotterdam oder Amsterdam sind viel näher an den Zentren des Verbrauchs im Ruhrgebiet und Rheinland als der Norden Deutschlands. Es ist doch verrückt, wenn ein LNG-Schiff aus dem Mittelmeerraum kommt und noch den Weg bis in den Norden Deutschlands zurücklegen muss, damit das Gas dann auf dem Landweg wieder zu uns zurückgeschickt wird.
„Reden und Handeln liegen beim Bund weit auseinander“
Und das im angeblich vereinigten Europa ...
Ja, die Häfen in Benelux müssen endlich als europäisch und gemeinsam begriffen werden. Das Denken in nationalen Kategorien muss aufhören. Neben der Vorliebe mancher Akteure in der Bundesregierung für den Norden schimmert da auch der Wille durch, lieber die Hand auf den Lieferungen durch eigene Häfen zu haben. In Verkennung der Tatsache, dass wir längst so miteinander vernetzt sind, dass das in diesem Fall kein Kriterium mehr sein sollte. Das zeigt aber auch, wie weit bei der Bundesregierung Reden und Handeln mit Blick auf einen europäischen Energiebinnenmarkt noch auseinanderliegen. Wir meinen es jedenfalls ernst damit.
Das Industrieland NRW jedenfalls braucht jede Menge Gas.
Definitiv. Und zukünftig wird es auch Wasserstoff sein, den wir benötigen. Dieser kann – bei manchen Leitungen nach einigen geringfügigen technischen Anpassungen – dann auch durch die bisherigen Gasleitungen laufen. Mit Blick auf den gewaltigen Bedarf an Wasserstoff in der Zukunft ist die Sorge, dass wir am Ende vielleicht zu viel Infrastruktur vorhalten, völlig unbegründet. Insofern sind Investitionen in die Infrastruktur Investitionen in mehr energiepolitische Unabhängigkeit und gleichzeitig in die Zukunftsfähigkeit des Industriestandorts Deutschland.
Die Gasleitungen sind auch für Wasserstoff geeignet
Einige Umweltverbände aber melden erhebliche Zweifel, ob es absehbar überhaupt adäquate Mengen an Wasserstoff geben kann.
Das sehe ich anders. Klar ist, wer die Transformation des Industriestandorts Nordrhein-Westfalen hin zu einer klimaneutralen Produktion will, der kommt an Wasserstoff nicht vorbei. Und ebenso klar ist, dass wir zumindest kurz- bis mittelfristig Wasserstoff importieren müssen, weil wir mit der Produktion in Nordrhein-Westfalen und Deutschland den heimischen Bedarf bei Weitem nicht decken können. Deshalb brauchen wir strategische Partnerschaften, wobei ich besonders in den Mittleren Osten und nach Afrika schaue. Damit sind auch politische Chancen verbunden. In jedem Fall bedarf es dann hier bei uns der notwendigen Leitungssysteme. Das gehört dazu, wenn wir Industrieland bleiben wollen. Und das wollen wir: Wir haben uns als schwarz-grüne Landesregierung vorgenommen, die erste klimaneutrale Industrieregion Europas zu sein. Im Vergleich zu anderen Regionen haben wir in Nordrhein-Westfalen zwar jetzt schon relativ viel geeignete Infrastruktur, aber noch nicht genug.