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Neue Details im Lügde-KomplexWeil Ermittler zu spät reagierten, wurde Almut lange weiter missbraucht

Lesezeit 8 Minuten
ILLUSTRATION- Ein junges Mädchen hält sich die Hände vor ihr Gesicht. Der rheinland-pfälzische Innenminister Roger Lewentz (SPD) und der Präsident des Landeskriminalamtes, Johannes Kunz, informieren über die Ermittlungsarbeit der Polizei im Kampf gegen Kindesmissbrauch und Kinderpornografie +++ dpa-Bildfunk +++

Ein junges Mädchen hält sich die Hände vor ihr Gesicht. (Symbolbild)

Recherchen des „Kölner Stadt-Anzeiger“ und Aussagen im NRW-Untersuchungsausschuss zeichnen ein erschreckendes Bild.

Einen Moment lang klingt es konsterniert, fast verzweifelt, wenn Jochen A. spricht. Immer wieder habe er auch bei der Polizei in Bielefeld nachgefragt, ob es Neuigkeiten gibt, berichtet der ehemalige Leiter des Jugendamtes in Northeim im Untersuchungsausschuss Kindesmissbrauch des nordrhein-westfälischen Landtages. Zwei Familien mit sechs Kindern und engen Kontakten zum Hauptbeschuldigten im bundesweit für Aufmerksamkeit sorgenden Missbrauchskomplex Lügde, sogar Hinweise auf die eventuelle Mittäterschaft der beiden Väter, die gemeinsam mit ihren Frauen gegenüber dem Jugendamt bei Nachfragen zu den Kindern mit einer „Wand von aggressiver Ablehnung“ reagierten – so habe sich die Situation damals dargestellt. „Da stimmt was nicht, haben wir gedacht, das stinkt zum Himmel“, berichtet A., und das habe er auch der Polizei gesagt: „Aber da kam nix, wir haben uns gewundert und waren irritiert.“

Jahrelang, mindestens von 2008 bis zum Dezember 2018, haben zwei Dauercamper im ostwestfälischen Lügde Dutzende Kinder missbraucht. Unbehelligt von Jugendamt und Polizei, die Hinweise auf den Missbrauch grotesk falsch interpretierten oder schlichtweg verschlampten. Im Februar 2019, nachdem zahlreiche Ermittlungspannen und eklatante Versäumnisse der in Lügde angesiedelten Ermittlungskommission „Camping“ öffentlich wurden, setzte der nordrhein-westfälischen Innenministers Herbert Reul (CDU) einen Sonderermittler ein und betraute die Kreispolizeibehörde Bielefeld mit dem Fall. Bisher galt die Arbeit der Besonderen Aufbauorganisation „Eichwald“, benannt nach dem Namen des Campingplatzes, mit rund 60 Beamten und 24 IT-Spezialisten als fehlerlos.

SPD: „Der Fall Lügde ist bisher scheinbar nur zur Hälfte erzählt“

Aber war das wirklich so? Haben sich die Ermittler womöglich zu sehr auf die beiden bereits bekannten Hauptverdächtigen und einen Unterstützer konzentriert? Wurde die Suche nach weiteren Tätern dabei vernachlässigt, wie etwa die Aussage des ehemaligen Northeimer Amtsleiters vermuten lässt? Unterlagen der Behörden und Recherchen des „Kölner Stadt-Anzeiger“ jedenfalls bringen zahlreiche Indizien zutage, die diesen Verdacht stützen.

„Der Fall Lügde ist bisher scheinbar nur zur Hälfte erzählt“, kommentiert Andreas Bialas, der für die SPD-Fraktion im Untersuchungsausschuss sitzt, die neuen Fakten auf Anfrage. „Unter den Augen von Polizei und Staatsanwaltschaft“ hätten sich „monatelang weitere Missbrauchstaten vollzogen, obwohl das Jugendamt Alarm schlug und eindeutige Hinweise von einem der Täter vorlagen“, schlußfolgert der Sozialdemokrat. Und fragt: „Gibt es eine Steigerung von fassungslos? Kann man irgendwie noch fassungsloser werden?“

Schon vor Monaten hatte Bialas angekündigt, genau zu prüfen, ob im Lügde-Verfahren auch die Hinweise auf weitere Verdächtige oder Mitwisser sorgfältig verfolgt wurden. Wie sich jetzt zeige, habe es aber offenbar auch nach der Übernahme des Verfahrens von Bielefeld „keine hinreichenden Absprachen, regelmäßigen Informationsaustausch und umfassenden Ermittlungen jenseits der sich in U-Haft befindenden Tatverdächtigen gegeben“, beklagt der Sozialdemokrat „Und wohl auch keine ernstzunehmende Dienstaufsicht durch das Innenministerium."

Die Chronologie der Ermittlungen

Der „Kölner Stadt-Anzeiger“ hat die Details des Falles, in dessen Zentrum das im Jahr 2010 geborene Mädchen Almut (Name geändert) steht, chronologisch sortiert. Im Januar 2019 wird die Neunjährige von der Ermittlungskommission „Camping“ als eines der Opfer identifiziert, die in Lügde missbraucht wurden. Im Februar 2019 wird die Kreispolizeibehörde Bielefeld mit den Ermittlungen zu Lügde betraut. „Die bisherigen Ermittlungen machen deutlich, dass es sich bei den beiden Beschuldigten vom Campingplatz nicht um Einzeltäter handelt. Vielmehr steht zu befürchten, dass sich dort in den letzten Jahren offenbar eine kriminelle Pädophilen-Szene etabliert hat, welche in verschiedenen Konstellationen Kinder und Jugendliche schwer missbraucht hat. Fotos wurden verbreitet und Live-Szenen mittels Webcam übertragen“, schreibt ein Beamter der BAO Eichwald am 3. Februar 2019 in einem Bericht an das nordrhein-westfälische Landeskriminalamt.

Auf dem Campingplatz Eichwald in Lügde wurden Dutzende Kinder missbraucht.

Das Umfeld der mittlerweile bereits verhafteten Hauptverdächtigen wird abgeklopft. Dabei stößt die Polizei auch auf Peter Müller (Name verändert). Bei seiner Vernehmung vom 6. März 2019 gibt der in Northeim lebende Schweizer an, den Lügde-Hauptverdächtigen Andreas V. nur flüchtig gekannt zu haben. Aber es gibt auch eine Verbindung zum Missbrauchsopfer Almut. Seine Stieftochter und Almut seien Freundinnen gewesen, sagt Müller. Von einem möglichen Missbrauch jedoch habe er nichts gewusst. Über die Freundschaft der Mädchen jedenfalls habe er dann auch Almuts Vater kennengelernt, der späteren Ermittlungen zufolge anschließend sogar zeitweise bei Müller gemeldet war.

Polizei vertraute Mutter, die ihre Tochter tagelang beim Lügde-Haupttäter übernachten ließ

Am 12. März 2019 wird Almuts Mutter vernommen, die noch drei minderjährige Söhne hat. Flüchtige Bekanntschaft? Nein, Müller und der Lügde-Haupttäter Andreas V. „kennen und verstehen sich gut“, berichtet sie. Almut und ihre drei weiteren Kinder hätten übrigens seit geraumer Zeit nahezu jedes Wochenende bei Müller übernachtet, egal ob seine eigenen Kinder anwesend waren oder sich bei der von ihm getrenntlebenden Mutter aufgehalten hätten.

Dennoch gebe es keinen Tatverdacht gegen den 47-Jährigen, entscheidet die Polizei. Am 8. April 2019 notiert ein Ermittler der BAO-Eichwald, „aus den Vernehmungen respektive Befragungen“ von Almuts Eltern würden sich „bislang keine Hinweise“ auf einen weiteren möglichen Missbrauch der Kinder ergeben. „Die Mutter ist entsprechend sensibilisiert worden, eine Erreichbarkeit der BAO Eichwald wurde sichergestellt. Sollten sich in Zukunft dennoch Anhaltspunkte für ein strafbares Verhalten ergeben, werden durch die BAO selbstständig weitergehende Maßnahmen durchgeführt“, schreibt der Beamte.

Erste Beschuldigungen durch einen Komplizen

Ein bemerkenswertes Vertrauen ist dies, das der Beamte in Almuts Mutter setzt. In jene Mutter, die ihre Tochter regelmäßig auch bei Andreas V. auf dem Campingplatz in Lügde übernachten ließ. Die es angeblich nicht beunruhigt, als Almut sich nach Ostern 2017 verändert. Die Kleine hat Angstträume, schläft nur noch bei Licht, schlafwandelt, fängt plötzlich an, dem Vater über den Genitalbereich zu streicheln, was laut der späteren Aussage der Eltern „nur durch Anschreien“ unterbunden werden kann. In der Folge hat das Mädchen regelmäßig „sehr ausgeprägte“ Rötungen und Schmerzen im Vaginalbereich. Selbst das alarmiert die Mutter nicht, die die Tochter mit einer Pilzsalbe und Heilcreme „behandelt“. Zum Kinderarzt bringt sie das Mädchen nicht.

Etwa eineinhalb Monate, nachdem die Ermittler im Zusammenhang mit Almut keinen weiteren Tatverdacht sehen, meldet sich der Anwalt des mittelweile verurteilten Lügde-Haupttäters Andreas V. bei der Staatsanwaltschaft Detmold. Sein Mandant habe ihm im Gefängnis von dem Mädchen berichtet, schreibt der Anwalt am 31. Mai 2019. Die Kleine habe während eines Schwimmbad-Besuches erzählt, mehrfach vom Vater missbraucht worden zu sein. „Das Kind konnte die Praktiken eines Oralverkehrs, eines Vaginal- und Analverkehrs mit kindlichen Worten beschreiben.“

Jugendamt Northeim schlägt Alarm

Von Amts wegen wird jetzt ein Strafverfahren gegen den Vater eingeleitet. Auch Peter Müller, bei dem der Mann gemeldet ist, rückt wieder ins Blickfeld. Die Staatsanwaltschaft bittet das Jugendamt Northeim um Informationen zu den beiden Familien. Dort wird umfassend recherchiert. Am 4. April 2019 antwortet der Soziale Dienst des Landkreises Northeim. In der Behörde seien die Verbindungen der beiden Familien untereinander sowie nach Lügde nicht bekannt gewesen. Da Almuts Eltern sich bei Kontaktversuchen „als abwehrend“ gezeigt hätten, könne das Ausmaß der aktuellen Kindeswohlgefährdung noch nicht abschließend beurteilt werden. „Eine (Arbeits-)Hypothese könnte sein, dass sich die beiden Männer bewusst Partnerinnen gesucht haben, zu denen ein größeres Machtgefälle besteht und über deren Kinder möglicherweise verfügt werden konnte. Insofern kommt der Beziehung der beiden Väter eine Schlüsselrolle zu“, schreibt das Amt.

Am 19. August 2019 indes stellt die Staatsanwaltschaft Detmold das Verfahren gegen den Vater trotzdem ein, weil Almuts vom Amt bestellte Ergänzungspflegerin entscheidet, dass das psychisch stark belastete Kind nicht erneut vernommen werden könne. „Ohne die Aussage wird eine Konkretisierung etwaiger Taten nicht gelingen. Ein hinreichender Tatverdacht besteht nicht“, heißt es in der Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschat. Weitere Ermittlungsschritte wie eine Hausdurchsuchung oder Telefonüberwachung werden nicht veranlasst.

Erneute Hinweise auf Täter aus der Schweiz

Etwa zwei Monate später, am 15. Oktober 2019, wird der mittlerweile zu 13 Jahren Haft verurteilte Lügde-Haupttäter Andreas V. im Gefängnis in einem anderen Zusammenhang von der Polizei befragt. Dabei sagt er auch, Müller habe ihm erzählt, seine Tochter missbraucht zu haben. Der Mann habe zudem gefragt, ob V. ihm ein anderes Mädchen für sexuelle Handlungen „ausleihen“ könne. Drei Tage später wird ein Strafverfahren gegen Müller bei der Staatsanwaltschaft Detmold eingeleitet.

Erst zwei Monate später, am 25. Februar 2020, wird V. im Gefängnis erneut zu den Vorwürfen gegen Müller befragt. Dabei habe er „konkrete Angaben gemacht“, heißt es in einem Behördenpapier. Er habe Müller über Almuts Familie kennengelernt. Man habe Telefonnummern ausgetauscht und sich dann mehrfach mit Kindern getroffen. Müller habe bei diesen Gelegenheiten erzählt, er habe anfangs seine leibliche Tochter missbraucht. Als diese älter geworden sei, habe er mit der Tochter seiner damaligen Lebensgefährtin weitergemacht. Zudem habe Müller vom Missbrauch anderer Mädchen berichtet, unter anderem dem von Almut. Und betont, dass das Kind ihm auch erzählt habe, vom eigenen Vater missbraucht worden zu sein.

Erst elf Monate nach den ersten Beschuldigungen wird durchsucht

Die Zuständigkeit für den Fall wechselt wegen Müllers Wohnort jetzt zur Staatsanwaltschaft Göttingen. Am 4. März 2020 wird bei dem Verdächtigen durchsucht. Einen Monat später wird ein Haftbefehl erlassen, weil auf 43 Datenträgern belastendes Material entdeckt wurde. Unter anderem ein Chatverlauf, der auf einen Missbrauch von Almut auch durch ihren Vater hindeute, heißt es schließlich am 27. März in einem Behördenpapier.

Auch das Verfahren gegen den Vater wird jetzt von der Staatsanwaltschaft Göttingen übernommen. Am 6. Mai 2020 wird Almut vom Jugendamt endlich aus ihrer Familie genommen, einen Tag später entzieht das Amtsgericht Einbeck den Eltern das Sorgerecht. Almut wird als vernehmungsfähig eingeschätzt. Bei einer Befragung belastet sie Müller schwer und teilweise auch ihren Vater, der in der Folge jedoch nicht verhaftet wird.

Sechs Jahre und drei Monate Haft wegen schweren sexuellen Missbrauchs

Die Hinweise, die bei der Durchsuchung von Müllers Wohnung gefunden werden, bringen den Mann auch noch mit einem anderen Kindesmissbrauch-Verfahren in Verbindung: Dem sogenannten „Northeim-Missbrauchskomplex“, in dessen Kontext gegen 130 Personen ermittelt wurde. Im Sommer 2021 wird Peter Müller vom Landgericht Göttingen wegen des mehrfachen schweren sexuellen Missbrauchs von vier Kindern und Verbreitung kinderpornografischer Schriften zu sechs Jahren und drei Monaten Haft verurteilt. Im März 2022 bestätigte der Bundesgerichtshof die Entscheidung, gegen die der Anwalt des mittlerweile 50-jährigen Angeklagten Revision eingelegt hatte.