KStA-Landeskorrespondent Gerhard Voogt geht ein besonderes Gespräch im NRW-Landtag nicht mehr aus dem Sinn.
Meine Geschichte 2024Werden Menschen mit Behinderungen als Billig-Arbeiter ausgebeutet?
In unserer Serie „Meine Geschichte 2024“ schreiben unsere Redakteurinnen und Redakteure über ihre ganz persönlichen Geschichten des Jahres.
Der Mann, der im Düsseldorfer Landtag aus dem Aufzug steigt, wirkt gut gelaunt. Er lächelt – und ist offenbar neugierig auf den Termin, der nun bevorsteht. Ich bin mit Dirk Hähnel zum Interview verabredet.
Gemeinsam gehen wir in das Büro von Dennis Sonne, der bei den Grünen für Inklusion und Behindertenpolitik zuständig ist. An der Tür hängt ein Schild. „Unbeatable together“, steht darauf. „Zusammen unschlagbar“ heißt das auf Deutsch.
Sonne begrüßt uns, und wir nehmen an seinem Besprechungstisch Platz. Ich bin Landeskorrespondent beim „Kölner Stadt-Anzeiger“, berichte seit vielen Jahren über Landespolitik und kenne Sonne. Sonne wiederum kennt Dirk Hähnel. Das entspannt die Atmosphäre sehr. Oft dauert es eine Weile, bis Gesprächspartner, die erstmals einen Journalisten treffen, auftauen. Zumal, wenn es um sehr persönliche Themen geht. „Es wäre schön, wenn wir völlig offen reden könnten“, sage ich zu Beginn des Interviews. „Was später als Zitat in der Zeitung erscheint, bestimmen Sie.“
Dirk Hähnel hat früher in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderungen gearbeitet. Eine Erfahrung, die ihn geprägt hat, und über die er jetzt sprechen möchte. Ich bin sehr gespannt, denn in diese Welt hatte ich bislang noch keine Einblicke. „Wir hatten die Aufgabe, gebrauchte Comuptermonitore zu überprüfen“, berichtet Hänel. Eine vergleichsweise komplexe Tätigkeit. Manchmal hätten sie zwanzig Geräte am Tag geschafft, berichtet er stolz. Nur die Bezahlung sei ein Witz gewesen. „Wir bekamen 1,35 Euro die Stunde.“
Hähnel lebt mit Epilepsie. Er sagt, dass er die Krankheit gut im Griff hat. Als Kind sei er auf eine Förderschule gegangen – und danach direkt in eine Werkstatt für Menschen mit Behinderungen in seinem Heimatort in Ostwestfalen gewechselt. „Ich hätte lieber einen richtigen Job gemacht, mit einer vernünftigen Bezahlung“, berichtet Hähnel. „Aber der Jobvermittler vom Arbeitsamt meinte, das käme für mich nicht in Frage.“
In NRW arbeiten rund 72.000 Männer und Frauen in Werkstätten für Menschen mit Behinderungen. Viele fühlen sich in der geschützten Umgebung gut aufgehoben, und sie stellen keine Ansprüche an ihre Bezahlung. Es gibt aber auch Mitarbeitende, sich damit nicht abfinden wollen. „Ich fühle mich ausgebeutet“, sagt Dirk Hähnel und schüttelt verärgert den Kopf.
Das kann ich gut verstehen. Ist eine Sonderwelt, in der Menschen mit Behinderungen mit Mini-Gehältern abgespeist werden, mit der UN-Behindertenrechtskonvention vereinbar? Nach dem Gespräch habe ich da große Zweifel. Müsste man ihm nicht auch den Mindestlohn zahlen?
Das ist eine wichtige Frage, die mich umtreibt. Kann es wirklich sein, dass Menschen wie Hähnel von den Werkstätten systematisch ausgebeutet werden? Dass er auf dem ersten Arbeitsmarkt eine Chance hätte, scheint ja außer Frage zu stehen.
Ich habe großen Respekt vor dem Mann, der mir gegenübersitzt. Vor Gericht werden „Kronzeugen“ vor Unbill geschützt, Menschen wie Hähnel müssen selbst damit klar kommen, wenn sie sich unbeliebt machen. Ein Gesetz zur Stärkung des Inklusiven Arbeitsmarkts wurde wegen des Ampelbruchs nicht mehr realisiert. Das Thema bleibt brisant. Für mich steht fest: Im nächsten Jahr will ich den Blick hinter die Kulissen weiter vertiefen.