Polizeigewerkschaftler Michael Martens kritisiert, auch rechtskräftig verurteilte Mörder, Vergewaltiger oder Menschenhändler seien auf freiem Fuß.
Nicht vollstreckte HaftbefehleGewerkschaft fordert Fahndungs-Einheiten bei der NRW-Polizei
Die Zahl der Haftbefehle, die in Nordrhein-Westfalen nicht vollstreckt wurden, ist in den vergangenen 20 Monaten um 12,8 Prozent gestiegen. Insgesamt 27.613 Täter waren zum Stichtag 28. August dieses Jahres noch auf freiem Fuß, obwohl sie eigentlich längst festgenommen worden sein müssten. Anfang 2023 waren es 24.500 Gesuchte (Stichtag 2.Januar), ein Jahr zuvor 24.075. Dies ist einem Bericht des nordrhein-westfälischen Innenministeriums für den Rechtsausschuss des Landtages zu entnehmen
Bei etwas mehr als der Hälfte der Fälle (14.567) handelt es sich um sogenannte „Ersatzfreiheitsstrafen“. Um Haftbefehle also, bei denen Geldbußen für leichtere Vergehen wie etwa Schwarzfahren in der Straßenbahn nicht bezahlt wurden und die stattdessen „abgesessen“ werden müssen. Bei der „Erzwingungshaft“, die 469 Mal angeordnet und nicht vollstreckt wurde, geht es um höhre Geldbußen oder ein Ordnungsgeld, dessen Zahlung durch die Inhaftierung erzwungen werden soll. Zudem wurden 274 „Sicherungsverfahren“ für ausreisepflichtige Ausländer nicht vollzogen, 73 Personen müssten in einer Psychiatrie untergebracht werden und 96 Minderjährige hätten längst zum verhängten Jugendarrest vorgeführt werden müssen.
319 Mörder sind auf freiem Fuß
Einen besonders hohen Anteil an den nicht vollstreckten Haftbefehlen haben auch die Strafrechtsverfahren. 4553 Personen, für die Untersuchungshaft angeordnet wurde, laufen noch frei herum. Dazu kommen weitere 7572 Personen, die bereits rechtskräftig verurteilt wurden.
Dabei geht es teilweise um schlimmste Vergehen, in 319 Fällen beispielsweise um Mord, in 317 um Totschlag, um 611 Sexualstraftaten, 35-mal Mal um Menschenhandel oder Zwangsprostitution und 313 politisch motivierte Straftaten – davon 79 wegen Rechtsextremismus und drei wegen Spionage. Bundesweit werden 145.744 Personen per Haftbefehl gesucht. 821 davon sind Mörder oder Totschläger.
„Die Gesuchten zu finden, diesen Anspruch habe ich an den Staat“
Die Zahlen im hiesigen Bundesland müssten differenziert bewertet werden, sagte ein Sprecher des nordrhein-westfälischen Innenministeriums. Es handele sich um eine „Momentaufnahme“, bei der einige Aspekte zu berücksichtigen seien. Beispielsweise könne „die Nichtvollstreckung eines Haftbefehls in vielen Fällen eine probate Sachbehandlung darstellen, etwa weil die Haft durch die Zahlung eines Geldbetrages abgewendet werden soll“. Oder wenn die gesuchte Person ins Ausland geflohen ist oder in sein Heimatland ausgeliefert oder abgeschoben wurde „und nur für den Fall der Wiedereinreise inhaftiert werden soll“, so der Sprecher. Zudem sei die Zahl der offenen Haftbefehle in NRW vor der Corona-Epidemie noch deutlich höher gewesen. Im Jahr 2019 waren es 32.905.
Wie auch immer man die nicht vollstreckten Haftbefehle interpretiere: „Es sind zu viele“, meint Michael Mertens, Landesvorsitzender der Gewerkschaft der Polizei (GdP). „Und das finde ich nicht nur als Polizist unbefriedigend, sondern auch als Bürger.“ Straftäter müssten halt bestraft werden, und zwar so schnell wie möglich. „Diesen Anspruch habe ich an den Staat“, so der GdP-Chef.
Gewerkschaft fordert spezielle Fahndungseinheiten bei der Polizei
Um das Problem in den Griff zu bekommen, müsse man sich „einfach nur an die Vergangenheit“ erinnern. Etwa zu Beginn des Jahrhunderts habe es dafür „eine eigene Einheit bei der Kriminalpolizei gegeben – und die hieß Fahndung“. Beamte, die gezielt nach „Nicht-Antrittspersonen“ gesucht hätten, die Kontakte im Umfeld der Täter geknüpft hätten oder an Plätze gegangen seien, an denen sich die Gesuchten vor dem Verschwinden oft aufgehalten haben. „Das Ganze braucht halt ein wenig Vernetzungsarbeit und Recherche, dann wären die Erfolge schnell sichtbar“, glaubt Martens.
Diverse Sparrunden und der „damalige Irrglaube, weil die Gesellschaft immer älter wird, würde es auch immer weniger flüchtige Täter geben“, führten aber dazu, dass die Abteilung „Fahndung“ Anfang des Jahrhunderts abgeschafft wurde. „Aktuell gibt es so eine Einheit leider in keiner Kreispolizeibehörde mehr“, weiß der Gewerkschafts-Boss: „Das ist verkehrt, das sollte geändert werden.“ Unabhängig von den wenigen aufwendigen Zielfahndungen des Landeskriminalamtes, seien die Festnahmeerfolge derzeit davon abhängig, „ob durch Zufall im Rahmen einer Verkehrsüberwachung oder eines anderen Einsatzes ein Flüchtiger erwischt wird“.
Zuviel Bürokratie bei der Polizei
Zumal die nordrhein-westfälische Polizei auch andere Schwerpunkte wie etwa den Kampf gegen Kindesmissbrauch oder Clankriminalität setze, wobei sich die Arbeitsbelastung immer weiter verdichte. „Und dann noch die Bürokratie“, sagt Martens und seufzt. Die zahlreichen Angaben, die mittlerweile zu jedem einzelnen Fall eingegeben werden müssten, diese „Verwaltungsaufgaben dauern heute drei-, viermal so lange wie vor zehn Jahren“. Auch das müsse „gründlich überdacht“ werden, fordert der GdP-Vorsitzende: „Denn wer Daten eingibt und bürokratische Vorgaben erfüllt, der kann halt nicht fahnden."
Der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul (CDU) jedenfalls ist gesprächsbereit. „Ich bin immer offen für neue Ideen und Vorschläge, wenn die Polizei dadurch effizienter arbeiten kann“, sagte Reul dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. Wichtig sei, dass hinter jeder Idee „ein klarer Plan zu erkennen sein muss, der deutlich macht, warum eine Veränderung sinnvoll ist“, ergänzte der Christdemokrat. Auch für den Vorschlag der GdP mit der Rückkehr zu eigenständigen Fahndungs-Abteilungen gelte daher: „Lasst uns drüber reden und dann sehen wir weiter!“