Die ersten fünf Mehrarbeitsstunden werden bei Landesbeamten – also auch bei der Polizei – nicht angerechnet. Ist das noch zeitgemäß?
Streit um MehrarbeitFünf Millionen Überstunden bei der Polizei in NRW – und jetzt kommt die EM
Der Zusammenstoß ereignet sich gegen 19.30 Uhr auf der Zoobrücke. Ein Autofahrer hat den zähfließenden Verkehr auf der rechten Fahrspur zu spät bemerkt, prallt mit seinem Wagen in das Stauende. Zum Glück wird niemand verletzt, aber der Sachschaden ist erheblich. Die Polizei wird alarmiert und kommt schnell. Eine Streife war auf dem Rückweg zur Wache in Kalk, um Schichtende zu machen. Daraus wird jetzt nichts. „Sie müssen an diesem Abend einmal mehr länger arbeiten“, sagt Michael Mertens, Vorsitzender der Gewerkschaft der Polizei (GdP) in NRW.
Die reguläre Arbeitszeit beträgt 41 Stunden pro Woche
In NRW arbeiten rund 40.500 Polizeibeamte. Ihre reguläre Arbeitszeit beträgt 41 Stunden pro Woche, aber Mehrarbeit gehört für viele zum Alltag. „Die Kolleginnen und Kollegen können nicht einfach den Stift fallen lassen und nach Hause gehen, wenn Einsätze noch nicht abgeschlossen sind“, sagt Mertens im Gespräch mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. Deswegen sei der Umgang mit den Überstunden ein wichtiges Thema. „Derzeit ist die Verärgerung groß. NRW-Innenminister Herbert Reul hat versprochen, dass jede Überstunde angerechnet wird. Davon ist jetzt keine Rede mehr. Obwohl jeder weiß, dass die nächsten Wochen und Monate zu einer großen Belastungsprobe für die Polizei werden, in der jede Menge Mehrarbeit anfallen wird“, so Mertens.
Nach Schätzungen der GdP schiebt die NRW-Polizei derzeit einen Berg von fünf Millionen Überstunden vor sich her. Die Summe dürfte sich in diesem Jahr deutlich erhöhen. „Veranstaltungen zur Europawahl müssen nach den Angriffen auf Politiker besonders gesichert werden. Dann kommt die Fußball-EM, bei der die Hälfte aller Spiele in NRW stattfindet. Und nach dem Sommer drohen die Castor-Transporte von Jülich nach Ahaus, die erhebliche Kräfte binden dürften“, sagt Mertens. „Die Beamten geraten an ihre Belastungsgrenze. Sie haben verdient, dass Mehrarbeit von der ersten Stunde an angerechnet wird.“
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Keine Ausnahmeregelung mehr für Polizeibeamte
Genau das ist aber nicht mehr der Fall. Das Landesbeamtengesetz sieht vor, dass allen Staatsdienern fünf Stunden Mehrarbeit zugemutet werden können, für die es keinen Ausgleich gibt. Für die Polizei galt – davon abweichend – die Praxis, dass die fünf Stunden durch Freizeit ausgeglichen werden konnten. Doch der Landesrechnungshof verlangte die Abschaffung der Ausnahmeregelung. „Und Innenminister Reul setzte die Empfehlung jetzt um, ohne nach einer rechtlichen Alternative zu suchen“, kritisiert GdP-Landeschef Mertens.
Kurios: Die Fünf-Stunden-Regel entfällt, wenn mehr als fünf Überstunden anfallen. Dann wird die Mehrarbeit ab der ersten Minute angerechnet. Ein Fehlanreiz? „Ich bin der festen Überzeugung, dass korrekt abgerechnet wird“, sagt Mertens. „Deswegen brauchen wir eine juristische saubere Regelung. Diese könnte Reul durch eine Rechtsverordnung nach hessischem Vorbild schaffen.“
Die SPD im Düsseldorfer Landtag hält die bisherige Regelung für nicht mehr zeitgemäß. „Der öffentliche Dienst steht im Wettbewerb mit der Privatwirtschaft um gute und qualifizierte Fachkräfte. Vor dem Hintergrund eines zunehmenden Fachkräftemangels muss die Attraktivität des öffentlichen Dienstes deshalb dringend gesteigert werden“, sagt Innen-Expertin Christina Kampmann. Dazu gehöre insbesondere auch die Frage des Umgangs mit Mehrarbeitsstunden. Die SPD habe im Februar einen Antrag in den Landtag eingebracht, indem die Streichung der Fünf-Stunden-Regel für sämtliche Beamtinnen und Beamte gefordert wurde. Dieser wurde aber von den schwarz-grünen Regierungsfraktionen abgelehnt.
Bei den Grünen deutet sich aber ein Umdenken an. Julia Höller, innenpolitische Sprecherin der Grünen, sagte unserer Zeitung, die Belastungen der Polizei würden durch aktuelle Ereignisse und Veranstaltungen in diesem Jahr noch verstärkt. „Während viele auf ein nächstes Sommermärchen hoffen, bedeutet die Europameisterschaft für die Polizei in NRW eine erhebliche Mehrbelastung“, sagt die Politikerin aus Bonn. „Es gilt natürlich, dass keine Stunde Mehrarbeit, die die Polizistinnen und Polizisten für unsere Sicherheit auf der Straße verbracht haben, verfallen darf“, erklärt Höller. „Mit Blick auf die anstehende Europameisterschaft wäre es ein Zeichen der Anerkennung und Wertschätzung, die Bagatellgrenze für Beschäftigte in der Polizei zunächst auszusetzen“, so die Grüne. Dafür brauche es eine rechtssichere Lösung, da die bisherige Lösung vom Landesrechnungshof NRW gerügt worden sei.
Reul will Beamtengesetz nicht ändern
Ein Sprecher von NRW-Innenminister Reul erkläre, die Polizisten seien nach Paragraf 61 Landesbeamtengesetz zur Ableistung von bis zu fünf Stunden entschädigungsfreier Mehrarbeit im Monat verpflichtet. Im Polizeialltag würden bei Sondereinsätzen „in aller Regel direkt mehr als fünf Mehrarbeitsstunden anfallen“. Es bestehe die Möglichkeit, jährlich bis zu 122 Stunden Mehrarbeit auf einem Langzeitarbeitskonto zu buchen.
Die Beamten hätten dann drei Jahre Zeit, Mehrarbeitsstunden durch Freizeit wieder abzubauen, hieß es. Optional können sie sich die Stunden bei Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen frühestens nach einem Jahr auszahlen lassen. Eine Änderung des Landesbeamtengesetzes sei nicht geplant.