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NRW-Ärzte schlagen AlarmWie eine Frühreha Werner Weisters ins Leben zurückholte – Therapieform in Gefahr

Lesezeit 7 Minuten
Werner Weisters hatte einen Schlaganfall und kam dank Frühreha wieder auf die Beine. Er steht im Karohemd vor einer Gartenlaube.

Werner Weisters vom Niederrhein half eine Frühreha in der LVR-Klinik Bonn nach einem Schlaganfall wieder auf die Beine.

„Christel, halt mich fest, ich glaub, ich geh kaputt“, rief Werner Weisters noch. Dann streckte ihn ein Schlaganfall nieder. Wie er wieder zurück ins Leben fand.

Unter dem Stichwort Fernziel hatte der Arzt in seiner Krankenakte vermerkt: Steak mit Kräuterbutter. „Das habe ich geschafft“, sagt Werner Weisters vergnügt. Der Weg zum Steak war lang, oft zermürbend und an manchen Tagen unterbrach ihn Weisters mit einem Wutanfall. Wenn die linke Hand sich mit ihrem Kribbeln wichtigmachte, statt einfach still ihre Aufgabe am Piano zu erfüllen, zum Beispiel. „Da sitze ich dann am Klavier und beschimpfe meine Hand. Du blöde Hand, sage ich dann.“

Werner Weisters, 65 Jahre alt, ist ein ehrgeiziger Kranker. Vor drei Jahren streckte ihn ein Herzinfarkt und ein Schlaganfall nieder – beides zur gleichen Zeit. Dass er heute wieder sitzen, laufen und sogar – wenn nach eigener Aussage auch „links etwas schleppend“ – Klavier- und Tubaspielen kann, habe er der ausgezeichneten Behandlung in der neurologischen Frührehabilitation zu verdanken. Weil am Niederrhein kein Bett für ihn frei war, karrte man ihn liegend in die LVR-Klinik nach Bonn.

Mehrere Frühreha-Kliniken in der Region haben schon das Handtuch geworfen

„Ein riesiger Glücksgriff für mich“, sagt Weisters. Aber auch einer, der künftig mutmaßlich weniger Patientinnen und Patienten zuteil werden wird. Denn der neue Krankenhausplan des Gesundheitsministeriums NRW sieht vor, dass von den beantragten 3840 Fällen in den Versorgungsgebieten um Köln und im südlichen Rheinland nur gut die Hälfte genehmigt werden sollen. Gerade im Raum Köln und Bonn verschlechtert sich die Lage. In der Mediclin Klinik Reichshof-Eckenhagen hat man schon das Handtuch geworfen und die Frühreha-Versorgung eingestellt, ebenso wie in der Rehaklinik Dr. Becker Rhein-Sieg-Klinik in Nümbrecht.

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„Schlaganfallpatienten werden in NRW immer schlechter mit Frühreha versorgt. Der Krankenhausplan wird die Lage nicht verbessern, sondern noch verschärfen“, sagt Professor Christian Dohmen, Beauftragter der Stiftung Deutsche Schlaganfallhilfe und Chefarzt an der LVR-Klinik in Bonn im Gespräch mit unserer Zeitung.

Auch andere Mediziner schlagen Alarm, fürchten eine akute Unterversorgung. „Unsere schwer betroffenen Patienten können hier nicht mehr versorgt werden, sie müssen schon heute oft über die Landesgrenze gebracht werden“, klagt Jürgen Bonnert, Ärztlicher Direktor der Mediclin Klinik Reichshof, die wegen Personalmangels aus der Frühreha-Versorgung ausgeschieden ist. Dabei sei wohnortnahe Behandlung gerade bei Schlaganfallpatienten wichtig. „Es kann zu Persönlichkeitsveränderungen kommen, viele Patienten sind erstmal hilflos. Der Kontakt zu den Angehörigen wird deshalb gebraucht“, so Bonnert.

Werner Weisters sitzt am Klavier und schaut freundlich in die Kamera.

Werner Weisters übt nach einem Schlaganfall wieder am Klavier. Das klappt ganz gut, wenn seiner eigenen Aussage zufolge auch „links etwas schleppend“.

Es ist ein trüber Tag im Januar 2022 in Kerken am Niederrhein, Werner Weisters, Kriminalhauptkommissar im Ruhestand, hat sich gerade ein Euphonium im Sauerland gekauft und ist im Begriff das Blasinstrument zu Hause zu testen. Plötzlich sacken ihm die Beine weg. „Christel, halt mich fest, ich glaub, ich geh kaputt“, ruft er noch. Er übergibt sich, legt sich ins Bett. Doch dann geht alles ganz schnell. Sanitäter, Wiederbelebung, Krankenwagen, kein verfügbares Schlaganfallbett im Umkreis von 50 Kilometern, also ab nach Geldern, Herzpumpleistung bei nur 25 Prozent, Operation, zwei Tage später Helios Klinikum Krefeld, Weisters kann nicht mehr schlucken, künstliches Koma. Und dann der Anruf bei Christel Weisters: „Entweder ihr Mann bekommt ein Tracheostoma oder sie lassen ihn abschalten.“

Christel Weisters entscheidet sich für den Luftröhrenschnitt, obwohl ihr Mann in einer Patientenverfügung hinterlassen hatte, nicht von Maschinen am Leben gehalten werden zu wollen. „Ich wusste, ich kriege hinterher Ärger mit ihm.“ Und in der Tat ist da erstmal nicht viel Lebensmut, als Weisters mit dem Schnitt in der Luftröhre aufwacht. Er kann sich nicht bewegen, kann nichts essen, nicht sprechen, sieht Doppelbilder. „Hätte mir jemand eine Schrotflinte mitgebracht, ich hätte ohne zu zögern abgedrückt.“ Heute ist Weisters dann doch dankbar, noch am Leben zu sein.

Schlucken lernen mit einem Stück italienischer Salami

Dem Chefarzt, der irgendwann in sein Frühreha-Zimmer kam und sagte: „Herr Weisters, wir wollen jetzt mal mutig sein.“ Das Tracheostoma kommt raus. „Sie können normal essen.“ Der Logopädin Helga, die ihm nach winzigen Joghurtlöffelchen ein Stück italienische Salami mitbrachte und ihm damit das subglottische Schlucken mit Muskelkraft beibrachte. Denn einen Schluckreflex hat Weisters seit dem Schlaganfall nicht mehr. Am meisten aber seiner Christel, die ihn nach der Frühreha dann auch in die zweite Reha nach Nümbrecht begleitete. „Da konntest du schon ganz normal im Rollstuhl sitzen. Da bist du nicht mehr dauernd umgekippt“, sagt Christel Weisters.

Ein auf Schlaganfallbehandlung spezialisiertes Krankenhaus, ein erfahrendes Frühreha-Team, direkter Draht zu den Pflegenden, zu den Ärztinnen und Ärzten: Weisters ist überzeugt davon, dass er seine zügigen Fortschritte diesen positiven Umständen in der Klinik in Bonn zu verdanken hat. Nach den derzeitigen Planungen des Gesundheitsministeriums wird die LVR-Klinik allerdings bald jemandem wie Weisters nicht mehr helfen können. Die Beantragung der Leistungsgruppe 26.3, Frühreha, wurde zunächst abschlägig beschieden. Und das, obwohl die Klinik noch 2019 einem Bittschreiben der Bezirksregierung Köln nachkam, die auf eine Unterversorgung hinwies und eine Aufstockung der Frühreha-Betten forderte.

Ein Gutachten attestiert NRW die niedrigste Frühereha-Bettendichte deutschlandweit

In acht Betten habe man im vergangenen Jahr etwa 100 Frühreha-Patienten behandelt. Weitere 90, die beispielsweise nach einem Schlaganfall hier lagen, musste man aus Kapazitätsgründen in andere Häuser vermitteln – oft landen sie jenseits der Landesgrenze. Auch bei der Schlaganfall-Selbsthilfegruppe in Bonn ist man „geschockt“ über das prognostizierte Aus. „Wenn eine Klinik etwas so gut kann, woran es überall mangelt, dann muss sie doch weitermachen dürfen“, sagt Sprecher Heiko Neumann. Beim Gesundheitsministerium hat er im Mai Einspruch gegen die Schließungspläne eingereicht. „Ich fühlte mich verpflichtet, schließlich haben mehrere Mitglieder unserer Selbsthilfegruppe der LVR Klinik ihr Leben zu verdanken“, sagt Neumann.

Dass es in NRW um die Versorgung mit Frühreha-Plätzen nicht allzu gut bestellt ist, zeigt auch ein Gutachten des Iges, eines unabhängigen Forschungs- und Beratungsinstitut für Infrastruktur- und Gesundheitsfragen. Hier attestierte man NRW schon 2012 deutschlandweit „die niedrigste Versorgungsquote und die niedrigste Bettendichte“ im Bereich der Frühreha. 2010 wurden etwa 1500 Fälle im Bundesland behandelt, die Iges schätzt, dass der Bedarf aber neunmal so hoch gelegen hätte.

Der Mangel bringt die verbliebenen Frühreha-Kliniken Experten zufolge in die schwierige Lage, eine Selektion vornehmen zu müssen, allerdings nicht nach medizinischen Kriterien wie beispielsweise des Reha-Potenzials. „Es werden stattdessen in vielen Kliniken privat versicherte Patienten bevorzugt sowie pflegerisch weniger aufwändige. Wer querschnittsgelähmt ist oder sich beispielsweise einen Problemkeim eingefangen hat, wird dann abgelehnt und wird trotz hohen Besserungspotenzials ohne Reha ins Pflegeheim verlegt“, sagt Dohmen.

Für ältere Patienten scheint künftig keine Frühreha mehr vorgesehen zu sein. Das ist ein medizinischer Skandal.
Christian Dohmen, Beauftragter der Stiftung Deutsche Schlaganfallhilfe

Gemäß dem Gutachten werden 57 Frühreha-Betten pro einer Million Einwohner benötigt, wenn man nur unter 80-Jährige rehabilitieren wollte, 97 Frühreha-Betten, wenn man auch über 80-Jährigen helfen will. Und spätestens hier erhitzen sich die Gemüter. Denn derzeit verfügt die Region Bonn/Rhein-Sieg mit etwa einer Million Einwohnern mit dem Neurologischen Rehabilitationszentrum Godeshöhe und der LVR-Klinik Schätzungen zufolge über keine 50 einsatzbereiten Betten. Laut Iges-Berechnungen würde es also schon für Patienten unter 80 Jahren eng, „für die älteren Patienten scheint aber künftig keine Frühreha mehr vorgesehen zu sein“, sagt Christian Dohmen im Gespräch mit unserer Zeitung – für ihn nicht weniger als ein „medizinischer Skandal“.

Im Düsseldorfer Ministerium spricht man da lieber von einer „kleinen Revolution“. Die erreicht man aber nur durch eine Art Taschenspielertrick: „Mit dem neuen Krankenhausplan wird in Nordrhein-Westfalen nicht mehr anhand von Betten, sondern auf der Basis konkreter Fallzahlen über sogenannte Leistungsbereiche und Leistungsgruppen geplant.“ Den Vorwurf der bewussten Altersdiskriminierung will das Ministerium nicht auf sich sitzen lassen. Man habe zwar die Iges-Berechnungen in seine Überlegungen mit einbezogen, „dies hat aber keine Begrenzung der Altersgruppen zur Folge“.

Auch die Kritik, die Frühreha-Kapazität sei für die Region Köln und Bonn nicht ausreichend, will das Gesundheitsministerium nicht gelten lassen. Man habe dem Regierungsbezirk Köln 2100 Fälle im Anhörungsverfahren zugedacht. Damit liege man „deutlich oberhalb des Bedarfs“ und auch oberhalb des tatsächlichen Leistungsgeschehens, „in keinem der Jahre 2019 bis 2022 haben die Leistungserbringer im Regierungsbezirk Köln mehr als knapp 1400 Fälle in der LG 26.3 erbracht“, schreibt das Ministerium. Im Übrigen könnten die Kliniken, die einen Zuschlag erhalten, auch mehr Fälle abrechnen, als im Krankenhausplan angedacht.

Wie sich die Lage in der Frühreha-Versorgung in der Region weiterentwickelt, ist noch nicht abschließend entschieden. Das Ministerium weist darauf hin, dass man derzeit die Stellungnahmen der Kliniken im Rahmen des Anhörungsverfahrens auswerte und zum Jahresende finale Entscheidungen treffen werde.

Werner Weisters hat sich derweil ein Dreirad gekauft. Damit hofft er trotz seines eingeschränkten Gleichgewichtsinns wieder durch die Gegend fahren zu können. Außerdem ackert er am Klavier gerade an „Music was my first love“. In ein paar Tagen heiratet sein ältester Sohn, da muss das sitzen. Im Oktober steht eine Reise an die Nordsee an. Strandspaziergänge mit Christel und dem Hund Max. Und im April, wenn sich sein Entlassungsdatum jährt, lädt Weisters wie jedes Jahr das Auto mit Kuchen voll und fährt nach Bonn. Sich beim Pflegepersonal bedanken. Denn hier bei Helga und der Salami hat er seinen Lebensmut wiedergefunden. „Jetzt will ich 80 Jahre alt werden.“