In Dokumenten werden Mitgliedern der NRW-AfD rechtsextreme Fehltritte vorgeworfen. Die Rügen kommen ausgerechnet vom Rechtsaußen-Flügel.
Streit in der NRW-AfDWer ist der Radikalste im ganzen Land?
Theoretisch hätte die AfD ihren Bundesparteitag nutzen können, um entschieden auf Distanz zum Rechtsaußen-Lager zu gehen. Schließlich besiegelte sie in Riesa das Ende der als „gesichert rechtsextrem“ eingestuften Jungen Alternative (JA) als Parteijugend. Die Funktionäre hatten genug von den Alleingängen der eigenen Jugend, von radikalisierten JA-Mitgliedern, die rote Linien nicht nur überschreiten, sondern völlig ignorieren.
Doch dann trat die frisch gekürte Kanzlerkandidatin der Partei, flankiert von 16 Deutschlandfahnen, vor das Mikrofon und hielt eine Rede, die viele Beobachter als weiteren Schwenk nach Rechts deuten. Als Alice Weidel über Abschiebungen sprach, fiel auch ein Wort, das eigentlich Kernbegriff der JA ist und das die Bundesspitze zuvor sorgfältig gemieden hatte. „Und wenn das dann Remigration heißt, dann heißt das eben Re-mi-gra-tion!“, skandierte Weidel. Ihr bislang vergleichsweise bürgerlicher Kurs scheint vergessen – auch ohne krawallige Jugend treiben die Radikalsten den Kurs der Partei weiter nach rechts.
In kaum einem Landesverband zeigt sich dieser Richtungsstreit so offen wie in der NRW-AfD. Dabei wurde der Landeschef Martin Vincentz in Riesa von einem seiner größten Probleme befreit: Sein Verhältnis zur „Jungen Alternative NRW“, von manchen „die Scheitelarmee“ genannt, gilt als äußerst schlecht. Gegen ein Mitglied des JA-Vorstands läuft ein Parteiausschlussverfahren, den stellvertretenden Vorsitzenden hat die AfD bereits rausgeschmissen, seit einem Jahr ruht die Finanzierung der Jugendorganisation. Die JA in NRW unterstützt den rechtsradikalen Parteiflügel, dessen prominentestes Gesicht im Land Matthias Helferich ist. Der Dortmunder Bundestagsabgeordnete und Höcke-Vertraute ist innerhalb der AfD heftig umstritten, seit er sich in geleakten Chats als „das freundliche Gesicht des NS“ bezeichnet hat.
Helferich-Lager wirft Vincentz bürgerliche Fassade vor
Martin Vincentz, seit 2022 Vorsitzender der AfD in Nordrhein-Westfalen, wollte seiner Partei einen gemäßigten Anstrich verpassen. Er habe den Posten mit dem Anspruch angetreten, unterschiedliche Milieus anzusprechen, sagte der Arzt aus Krefeld vor einigen Monaten in einem Gespräch mit dieser Zeitung. Diese Milieus sind seiner Meinung nach Konservative, enttäuschte CDU-Wähler, Nationalliberale, Menschen mit „rechten Positionen“, aber keine Rechtsextremisten.
2024 leitete der Landesvorstand ein Parteiausschlussverfahren gegen Helferich ein, das parteiinterne Schiedsgericht bestätigte den Entzug seiner Mitgliedsrechte. Derzeit ruht der Vorgang, Helferich, selbst Jurist, hatte einen Befangenheitsantrag gegen die Vorsitzende Richterin gestellt. Sollte Helferich tatsächlich aus der Partei ausgeschlossen werden, ist Vincentz seinen größten Quälgeist los.
Kaum ein Landesverband liegt dermaßen im Clinch mit dem Rechtsaußen-Flügel der eigenen Partei. Alles Fassade, heißt es im gegnerischen Lager. Der Vorwurf: Vincentz’ Maßnahmen würden allein dem Zweck dienen, innerparteiliche Kritiker loszuwerden. Bei Verfehlungen von eigenen Unterstützern drücke er hingegen ein Auge zu.
Rechtsaußen-Lager klagt extremistische Fehltritte an
Der „Kölner Stadt-Anzeiger“ konnte mehrere Schriftsätze des Parteischiedsgerichts einsehen: Beschwerden wegen Ordnungsmaßnahmen, die in Düsseldorf landeten, Anträge auf Parteiausschluss, Streitigkeiten in den Kreisverbänden. Es geht um Antisemitismus, um die Unterstützung einer greisen Holocaust-Leugnerin, um das Zeigen des Neonazi-Symbols Schwarze Sonne. Das Schiedsgericht urteilte in allen Fällen zugunsten der Beschuldigten. In einem nicht signierten Schreiben ist von „Willkürjustiz“ die Rede, von „Vincentz’s Schiedsgerichtskammer“. Der dort zuständige Richter, heißt es in dem Schreiben, stehe dem Landeschef nahe.
Es sind Unterlagen, die eine Auffälligkeit gemeinsam haben: Die Ankläger in den Dokumenten gehören ausgerechnet zum Rechtsaußen-Flügel. Rechtsradikale, die anderen Parteimitgliedern extremistische Fehltritte vorwerfen – in der AfD scheint man den Spieß umzudrehen.
Schauplatz eins: Arnsberg. Der Bezirksverband ist in der Hand von Sprecher Christian Zaum, Listenplatz zehn für die Bundestagswahl, gegen den der Landesvorstand im Sommer erfolglos ein Parteiausschlussverfahren beantragte. Einige Monate zuvor hatte Zaum eine Abmahnung an den Kommunalpolitiker Peter S. (Name geändert) geschickt. Grund war ein Facebook-Kommentar über die mehrfach verurteilte und in der Zwischenzeit gestorbene Holocaust-Leugnerin Ursula Haverbeck. „Will man die Frau denn im Gefängnis sterben lassen? Ich bin bestürzt“, hatte S. geschrieben. Mit einem solchen Kommentar, befand Zaum, schade S. der Partei. „Für antisemitisches Gedankengut ist in der AfD kein Platz!“, schrieb Zaum.
S. ging gegen die Abmahnung vor, das Schiedsgericht gab ihm recht. Peter S. habe sich nicht gegen die Verurteilung von Haverbeck gewendet, sondern nur gegen die Gefängnisstrafe ohne Bewährung bei einer über 90-Jährigen, heißt es in der Entscheidung. Allerdings: Peter S. schrieb seinen Kommentar unter den Post einer anonymen Gruppe, der mit den Worten „Zum 95. Geburtstag alles erdenklich Gute, Ursula Haverbeck“ begann.
Haverbeck auch Streitgrund in Unna
Schauplatz zwei: Unna. Auch hier war die Unterstützung für Ursula Haverbeck der Streitgrund. AfD-Parteimitglied Monika R. (Name geändert) hatte in einer Telegram-Gruppe einen Aufruf geteilt: Alle Angeschriebenen sollten sich beim Gesundheitsamt in Hamburg beschweren, da erneut ein Prozess gegen Haverbeck wegen Volksverhetzung angestrengt wurde. „Frau Haverbeck hat niemanden körperlich verletzt, beraubt, beleidigt oder andere boshafte Dinge getan“, heißt es in dem Aufruf. „Es geht ausschließlich um die Untersuchung und den damit einhergehenden Aussagen zur Thematik des Holocaust.“ R. hatte daraufhin eine Abmahnung von Kreissprecherin Friederike Hagelstein im Briefkasten – einer Kommunalpolitikerin, die sich auf sozialen Medien mit Thüringens AfD-Chef Björn Höcke zeigt und ihr Selfie mit einem „Team Remigration“-Filter umrahmt.
Auch diese Abmahnung hob das Schiedsgericht auf. Die Begründung: Der Solidaritätsaufruf habe sich auf die Anordnung von Haft für eine Hochbetagte bezogen. Dieser sei durch die Meinungsfreiheit geschützt.
Im März 2024 stellt Hagelstein zudem einen Antrag auf Parteiausschluss gegen eine Frau aus ihrem Kreisverband. Sie kokettiere mit dem Neonazi-Symbol Schwarze Sonne, so Hagelstein, schade damit dem Ansehen der AfD und stärke damit den Vorwurf des Verfassungsschutzes, die Partei verfolge verfassungsfeindliche Ziele. Das Ausschlussverfahren wurde vor dem Schiedsgericht nicht eröffnet.
Auf Anfrage teilen das Landesschiedsgericht NRW und der Landesvorstand mit, sich zu den Verfahren nicht zu äußern. Der Landesvorstand achte auf die Wahrung der Unabhängigkeit der Parteischiedsgerichtsbarkeit, so ein Sprecher.
Schlappe beim Parteitag in Marl
Erst Anfang des Monats musste das Lager um Vincentz in Marl auf dem Nominierungsparteitag des Landesverbands zur Bundestagswahl Rückschläge hinnehmen. Für alle stand viel auf dem Spiel. Die Partei rechnet am 23. Februar mit einem Rekordergebnis, noch nie hatten so viele Kandidaten die Chance auf einen Sitz im Bundestag.
Der Plan des Parteivorstands für die Aufstellung der Landesliste war ein offenes Geheimnis: Der als gemäßigt geltende Kay Gottschalk sollte die NRW-AfD als Spitzenkandidat in den Wahlkampf führen. Und das prominenteste Gesicht des rechtsextremen Lagers, Matthias Helferich, sollte auf einem aussichtslosen Listenplatz landen und somit aus dem Bundestag ausscheiden.
Schon mit der ersten Abstimmung verfehlte die Strategie ihr Ziel. Gottschalk sicherte sich zwar Listenplatz eins, bekam allerdings nur 61 Prozent der Stimmen. Ein großer Teil der Delegierten votierte lieber für einen eher unbekannten Gegenkandidaten.
Kurz darauf sprach Helferich, beklatscht vom Publikum, in seiner Rede wieder über „millionenfache Remigration“. Im Bundestag ist er fraktionslos und sollte es nach dem Willen des Vincentz-Lagers auch bleiben. Ein Sprecher hatte vor Marl noch verlauten lassen: „Herr Helferich ist kein Mitglied der Bundestagsfraktion und wird auch nicht in die künftige aufgenommen werden.“ Aber auch dieser Wunsch könnte von der Wirklichkeit überholt werden: Helferich erreichte Listenplatz sechs – und es blieb nicht die einzige aussichtsreiche Platzierung für Bundestagskandidaten, die dem Landesvorstand nicht wohlgesonnen sind. Die Basis scheint keine Lust mehr auf Mäßigung zu haben.
Unterstützung von „Schampus-Max“
„Ich baue die Brandmauer zu den Rechtsextremisten“, sagte Vincentz noch im letzten Jahr. Einige Steine aus dieser Mauen scheinen nun eher dem Brückenbau zu dienen. Ex-Landeschef Thomas Röckemann kehrt nach der Bundestagswahl in den Landtag zurück, da ein Abgeordneter von Düsseldorf nach Berlin wechselt. Früher sagte man Röckemann eine Nähe zu Björn Höcke nach, inzwischen wird er zum Lager von Vincentz gezählt.
Bevor in Marl der Kampf um die Listenplätze begann, sorgte ein Gast aus Brüssel für Überraschung: Maximilian Krah sprach ein Grußwort. Noch während er die AfD im Frühsommer 2024 als Rechtsaußen-Kandidat in den Europawahlkampf führen sollte, fiel er nach Spionage-Skandalen in Ungnade. „Schampus-Max“, nannte man ihn zuletzt in der eigenen Partei. Der rechtsextremen Fraktion im Europaparlament war er zu radikal, weshalb sie die gesamte AfD-Parlamentariergruppe ausschloss. In Marl sprach Krah einem Parteifreund seine Unterstützung aus: Martin Vincentz.