Ein Jahr dauerte der Prozess zum Fall des getöteten 16-Jährigen. Die Staatsanwaltschaft hatte eine Bewährungsstrafe für den Einsatzleiter gefordert.
Tödliche Polizeischüsse in DortmundGericht spricht alle angeklagten Polizisten im Dramé-Prozess frei
Mit viertelstündiger Verspätung trat der Vorsitzende Richter Thomas Kelm nebst Kollegen und Schöffen der Dortmunder Schwurgerichtskammer am Donnerstagmittag in den proppenvollen Saal. Nach einjähriger Hauptverhandlung um die tödlichen Polizeischüsse auf den 16-jährigen Mouhamed Dramé sprach Kelm die fünf angeklagten Einsatzkräfte frei. Neben dem Todesschützen sah das Gericht auch bei dem Einsatzleiter kein strafbares Verschulden. Für Letzteren hatte Chefankläger Carsten Dombert in seinem Plädoyer zehn Monate auf Bewährung gefordert, da sein Befehl zum Einsatz von Pfefferspray die Lage bis zum Tod des jugendlichen Flüchtlings habe eskalieren lassen.
Mit den Freisprüchen geht ein spektakuläres Verfahren vorerst zu Ende. Es war der 8. August 2022, als Betreuer eines katholischen Jugendwohnheims in der Dortmunder Nordstadt die Polizei riefen. Dramé, einer ihrer Schützlinge, hockte im Innenhof und hielt sich ein Messer gegen seinen nackten Bauch. Tags zuvor hatte sich der Senegalese wegen psychischer Probleme in eine Klinik einweisen lassen, war aber wieder entlassen worden. Erfolglos versuchte der Einsatztrupp, den Jugendlichen anzusprechen.
Dann eskalierte die Lage: Der 56-jährige Dienstgruppenleiter befahl den Einsatz von Pfefferspray. Statt das Messer fallen zu lassen, erhob sich Dramé und bewegte sich zügig auf die Beamten zu. Es war der einzige Fluchtweg. Vergeblich setzten zwei Beamte ihre Taser ein. Knapp zwei Sekunden später drückte der Sicherheitsschütze ab.
Schütze wähnte sich irrtümlich in Notwehrlage
Ursprünglich hatte die Staatsanwaltschaft den 30-jährigen Beamten wegen Totschlags, seine Kollegen wegen gefährlicher Körperverletzung im Amt und den Einsatzleiter wegen Anstiftung angeklagt. Während der Beweisaufnahme, in der viele Zeugen, Experten und die Angeklagten aussagten, ergab sich ein anderes Bild.
Das Landgericht folgte den Anklägern in weiten Teilen. So wertete der Vorsitzende die tödlichen Schüsse als einen Akt der Gefahrenabwehr. Da Dramé mit dem nach vorne gerichteten Messer schnellen Schrittes auf die Polizisten zugeeilt sei, gingen die Beamten „von einer konkreten Gefahr aus“. Drei Meter vor den Einsatzkräften fielen sechs Schüsse, fünf von ihnen trafen den jungen Senegalesen. Das Gericht glaubt nicht, dass Dramé einen Angriff plante, doch dies hätten die Polizisten nicht wissen könne. Irrtümlich wähnte sich der Schütze in einer Notwehrlage und drückte ab.
Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Die Staatsanwaltschaft kündigte an, das Urteil in Bezug auf eine mögliche Revision durch den Bundesgerichtshof prüfen zu wollen.
Protest unter den Zuschauern
Aufmerksam verfolgten die angeklagten Polizeibeamten die Ausführungen des Vorsitzenden zum Urteil. Unterdessen schüttelte die Opferanwältin Lisa Grüter immer wieder verständnislos den Kopf. Neben ihr saßen zwei Brüder des Getöteten. Mit stoischen Mienen verfolgten sie die Begründung zu den Freisprüchen, die ein Dolmetscher übersetzte. Mouhamed Dramé war nach seiner Flucht im April 2024 nach Deutschland eingereist und beantragte Asyl. Beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge erfand er eine Fluchtgeschichte. Sein Vater sei in Mali getötet worden. Er sei ohne Geschwister aufgewachsen und habe sich seit 2019 vom Senegal bis nach Deutschland durchgeschlagen.
Zwei Tage vor seinem Tod erhielt der Jugendliche jedoch Mails, wo nach dem Geld für Mutter und Familie gefragt wurde. Offenbar fühlte Dramé sich überfordert. Er war ausgereist, um sich in Deutschland eine neue Existenz aufzubauen. Doch so einfach scheint es nicht gewesen zu. Vermutlich war dies ein Grund für seine angeschlagene Psyche. Man werde nie mehr erfahren, was sich zu jener Zeit in seinem Kopf abspielte.
Nach dem Urteilsspruch begannen Aktivisten auf den Zuschauerrängen laut zu protestieren. Von rassistischer Polizeigewalt war die Rede. Die Wachtmeister mussten den Saal räumen.