Wut auf Politiker und Parteien schlägt immer öfter in Gewalt um – nicht nur im Wahlkampf. Wir haben Daten für NRW ausgewertet.
Zahlen zur GewaltAngriffe auf Politiker in NRW – auch CDU immer häufiger betroffen
Es ist der 2. Mai 2024, ein Donnerstagabend in Essen: Rolf Fliß, Essens dritter Bürgermeister, ist gegen 22.30 Uhr zusammen mit dem Bundestagsabgeordneten Kai Gehring auf der Rüttenscheider Straße unterwegs, als eine Gruppe Unbekannter die beiden Grünen-Politiker anspricht. Das zunächst freundliche Gespräch schlägt jäh um, als die Unbekannten beginnen, die beiden Politiker zu beleidigen und handgreiflich zu werden. Einer schlägt Essens dritten Bürgermeister Fliß unvermittelt ins Gesicht, die Tätergruppe flieht daraufhin in einem Taxi. Fliß wird bei dem Angriff leicht verletzt.
Bereits zahlreiche Angriffe auf Parteimitglieder in diesem Jahr
Die Fälle ziehen sich durch die Republik: Im Februar setzen Unbekannte das Haus des Thüringer Kommunalpolitikers Michael Müller (SPD) in Brand. Nur wenige Tage später wird ebenfalls in Thüringen das Wahlkreisbüro von Landtagspräsidentin Birgit Pommer (Linke) mit Hakenkreuzen beschmiert. Im März wird in Hannover der Grünen-Politiker Béla Mokrys in einem Supermarkt angegriffen und schwer verletzt.
Dem Hennefer Bürgermeister Mario Dahm wird Ende April in einem Brief Gewalt angedroht – weil der Stadtrat die Hundesteuer um zwei Euro im Monat erhöht hat. In Sachsen und Brandenburg werden binnen eines Tages Wahlkampfteams von Grünen, Volt und Linken beim Plakatieren angegriffen. Anfang Mai wird der sächsische SPD-Spitzenkandidat für die Europawahl, Matthias Ecke, beim Aufhängen von Plakaten von vier jungen Männern angegriffen. Ecke wird dabei so schwer verletzt, dass er im Krankenhaus operiert werden muss. Wenig später attackiert ein Mann die Berliner Wirtschaftssenatorin Franziska Giffey, die SPD-Politikerin wird leicht an Kopf und Nacken verletzt.
Die Liste ist bei weitem nicht vollständig. Das NRW-Innenministerium verzeichnete in diesem Jahr (Stand: 10. Mai) bereits mehr als 90 Angriffe auf Parteimitglieder oder -einrichtungen. Der Übergriff auf Rolf Fliß ist in dieser Statistik noch nicht enthalten.
Zahl der Übergriffe gegen Parteimitglieder steigt 2023 auf neuen Höchststand
In den vergangenen Jahren ist die Zahl der Übergriffe immer weiter gestiegen, auf einen neuen Höchststand im vergangenen Jahr. So verzeichneten die Polizeibehörden von 2022 auf 2023 einen Zuwachs von 23 Prozent bei registrierten Angriffen auf Parteigebäude und -einrichtungen. Die Zahl der Angriffe gegen Parteimitglieder stieg binnen eines Jahres sogar um 53 Prozent.
Die Häufigkeit der Übergriffe unterscheidet sich dabei je nach Partei: 2022 und 2023 richtete sich der Großteil der registrierten Übergriffe gegen Mitglieder und Einrichtungen der Grünen. Im Jahr 2022 waren es 58 Fälle, im Jahr 2023 bereits 110. In diesem Jahr verzeichneten die nordrhein-westfälischen Behörden bereits 36 Angriffe gegen Politiker oder Gebäude der Partei.
Zahl der Angriffe gegen CDU-Mitglieder deutlich angestiegen
Tim Achtermeyer, NRW-Landesvorsitzender der Grünen, sagt dazu: „Die Bundesrepublik hat es immer ausgemacht, dass man bei aller politischen Härte auch am Wahlkampfstand keine Sorge um die körperliche Unversehrtheit haben muss.“ Er fordert die Sicherheitsbehörden auf, „Demokraten zu schützen und Angriffe konsequent zu verfolgen. Diese Attacken gelten nicht nur einzelnen Menschen oder Parteien, sondern der Demokratie insgesamt“.
Besonders viele Angriffe verzeichnete das nordrhein-westfälische Innenministerium im vergangenen Jahr zudem gegen die CDU: Binnen eines Jahres vervierfachte sich die Zahl der Übergriffe nahezu – von 19 Angriffen im Jahr 2022 auf 72 Übergriffe im Jahr 2023. Auch Politikerinnen und Politiker der AfD sowie deren Einrichtungen sind häufig Ziel von Attacken.
Seit 2019 hat das Innenministerium insgesamt 2704 Straftaten gegen Politikschaffende sowie Parteigebäude in NRW gezählt, darunter 100 Gewaltdelikte. Einen Höhepunkt gab es mit 22 Fällen von Gewalt im vergangenen Jahr. 2024 wurden bereits zehn Gewaltdelikte gegen Politikerinnen und Politiker im Land registriert. Ein Sprecher des Ministeriums berichtet, dass „Straftaten zum Nachteil von Parteirepräsentanten/Parteimitgliedern oder Parteigebäuden flächendeckend sowohl in Ballungszentren als auch im ländlichen Raum stattfinden“.
„Beschimpfungen, Beleidigungen, Bedrohungen, Hass und Hetze dürfen niemals Mittel der demokratischen Auseinandersetzungen sein“, sagte Ministerpräsident Hendrik Wüst, als sich der Düsseldorfer Landtag mit der Gewalt gegen Politiker beschäftigte. „Demokratie und Gewalt widersprechen einander fundamental.“ Alle Demokraten müssten sich gemeinsam Hass und Gewalt entgegenstellen: „Niemand ist Freiwild.“
„Mensch bleiben – immer. Darum geht es“, sagte Wüst. „Mensch bleiben und im Gegenüber immer den Menschen sehen. Das ist der Kern des Zusammenlebens in unserem Land.“ Wo stattdessen nur die Hautfarbe, die Religion, das Geschlecht, die sexuelle Orientierung oder die politische Meinung gesehen werde, sei der Weg zu Ablehnung, Ausgrenzung und Gewalt nicht mehr weit, warnte der Regierungschef. Ebenso wie mehrere andere Redner appellierte er an alle, die Werte des 75 Jahre alten Grundgesetzes zu verteidigen.