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Kommentar

Zum 75. Geburtstag
Warum das Grundgesetz unseren Schutz braucht

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Lesezeit 3 Minuten
ARCHIV - 13.05.2024, Sachsen, Leipzig: ILLUSTRATION - Ein kleine Junge hält eine Ausgabe des Grundgesetzes in seinen Händen.

Das Grundgesetz der Bundesrepublik feiert in diesem Jahr seinen 75. Geburtstag. Es wurde am 23. Mai 1949 erlassen.

Nie war unsere Demokratie so verletzlich wie heute. In den 2020er Jahren wird sich entscheiden, wie wehrhaft unsere Werteordnung ist.

Deutschland hat vor 85 Jahren die Welt in einen grausamen Krieg gestürzt und das Menschheitsverbrechen an den Jüdinnen und Juden systematisiert. Schuld und Schande, die nie verjähren. Zehn Jahre später hat die neue Bundesrepublik mit dem Grundgesetz ein Versprechen für die Demokratie abgegeben: Nie wieder. Nie wieder Diktatur, nie wieder Krieg. Das Land, das den Massenmörder Adolf Hitler verherrlichte und mit ihm unterging, hat aus den Trümmern die Säulen von Freiheit und Menschenwürde geschaffen – das Gegenteil der Nazi-Lehre. Die Welt fasste wieder Vertrauen. Wunder geschehen. Mehr noch, spätestens mit der friedlichen Revolution der DDR-Bevölkerung und der Wiedervereinigung wurde Deutschland für viele zum Sehnsuchtsort. Eine Demokratie, die ihre Menschen beschützen und ihnen freie Entfaltung ermöglichen will.

Aber auch die Ewigkeitsklausel im Grundgesetz, nach der die Menschenrechte und das Wesen von Demokratie und Rechtstaat nicht angetastet werden dürfen, ist keine Garantie für „Nie wieder“. Die Zeitzeugen sterben aus. Wenn niemand mehr da ist, der aus eigenem Erleben von todbringender Verführung, Unrecht und Grauen erzählen kann, droht der Schrecken zu verblassen und mit ihm der Wert unserer Werteordnung. Nie zuvor erschien sie so verletzlich wie heute. Regierung und Union müssen sich beeilen, zusätzlich die Unabhängigkeit des Bundesverfassungsgerichts im Grundgesetz zu verankern. Das würde den Schutz vor Machtmissbrauch zumindest erhöhen.

Ein wichtiger Geburtstag: 75 Jahre Grundgesetz

Es wurden Fehler gemacht, die auch 35 Jahre nach dem Mauerfall nicht aufgearbeitet sind. Das Fenster der Geschichte war so kurz geöffnet, dass für eine neue gemeinsame Verfassung keine Zeit war. Aber eine neue Nationalhymne für die Identifizierung mit dem gemeinsamen Glück über die Deutsche Einheit hätte schon entstehen dürfen. Der Leistung der Ostdeutschen für die Wende und den anschließenden Kränkungen durch westdeutsche Arroganz sollte mehr Beachtung geschenkt und die unterschiedlichen Lebenserfahrung in Ost und West als Bereicherung verstanden werden.

Die Zeiten sind rau. In den USA könnte wieder ein Mann Präsident werden, der Menschen mit Behinderungen nachäfft, kluge Frauen verachtet, den Klimawandel leugnet und nach seiner Abwahl Anhänger ermunterte, den Kongress zu stürmen. Russland mit seinem Kriegsverbrecher Wladimir Putin will die westlich orientierte Ukraine vernichten und versucht, Demokratien in der Welt durch Hackerangriffe und Drohungen zu destabilisieren. China steht fest an der Seite Moskaus. In Europa erstarken die Rechtsextremisten.

Stresstest für die Demokratie

Und in Deutschland liegt in Umfragen bundesweit eine russlandnahe AfD um die 20 Prozent, die die politische Konkurrenz „jagen“ und sich „das Land zurückholen will“. Welches Land eigentlich? Das vor oder nach der Verankerung des Grundgesetzes? Politikerinnen und Politiker werden in den sogenannten sozialen Medien schon lange verunglimpft und bedroht, aber 2024 werden sie im Wahlkampf körperlich angegriffen. Aus Worten werden Taten.

Eine Demokratie gut zu finden, wenn der Wohlstand stimmt, die Regierung geräuschlos ihren Koalitionsvertrag abarbeitet und das Land internationalen Einfluss hat, ist leicht. Der Stresstest ist jetzt. In den 2020er Jahren wird sich entscheiden, wie wehrhaft unsere Demokratie ist. Wie bereit wir sind, sie zu verteidigen gegen jene, die einfache Lösungen versprechen und dabei gleich Artikel 1 des Grundgesetzes, die Unantastbarkeit der Menschenwürde, über Bord werfen. Unsere Grundrechte lesen sich wie ein Traum von einer anderen Welt. Dabei sie sind die Wirklichkeit. Und wir sind diejenigen, die sie jetzt verteidigen oder verraten werden. 1933 wäre das Grundgesetz die Rettung gewesen. (rnd)