Besonders die Verfolgung von Cybercrime und des Cum-Ex-Skandals beschäftigt die Staatsanwaltschaften enorm. Denen fehlt es aber bedeutend an Personal, unzählige Kriminalfälle bleiben unbearbeitet. Wie konnte es soweit kommen?
Notstand bei NRW-StaatsanwältenKölner Ankläger stehen vor dem Kollaps
Der letzte Akt fiel nüchtern aus. Justizminister Benjamin Limbach (Grüne) überreichte dem Leitenden Oberstaatsanwalt in Köln Joachim Roth Anfang vergangener Woche die Entlassungsurkunde. Als einziges Zugeständnis konzedierte die Ministeriumsspitze, dass der Chefankläger bei der Neueinführung seines Nachfolgers offiziell verabschiedet werden könne. Nach Informationen des „Kölner Stadt-Anzeiger“ wird Stephan Neuheuser als neuer Behördenleiter gehandelt. Ein kölsches Eigengewächs.
Roth musste gehen, weil er im Cum-Ex-Skandal eine andere Rechtsauffassung vertrat als der Minister. Limbach stand die Opposition aus der Hamburger Bürgerschaft bei der Aufklärung eines heiklen Kapitels im größten Steuerraub der deutschen Nachkriegsgeschichte auf den Füßen. An der Alster durchleuchtet ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss millionenschwere Cum-Ex-Steuergeschenke der Senatsregierung unter dem heutigen Bundeskanzler und damaligen Ersten Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) an die Privatbank Warburg.
Die hanseatische Opposition verlangte die Übersendung aller Unterlagen, die seitens der Kölner Cum-Ex-Abteilung unter Oberstaatsanwältin Anne Brorhilker bei Razzien in der Warburg Bank als auch bei der HSH-Nordbank beschlagnahmt worden waren. Behördenleiter Roth weigerte sich, da etliche Akten noch nicht hinsichtlich des Beweiswertes durchgesehen worden seien. Daraufhin musste er gehen. Offenbar beugte sich Justizminister Limbach der Drohung aus der Hamburger Bürgerschaft, die den Grünen-Politiker auf die Herausgabe des Materials verklagen wollte.
Das unrühmliche Ende des Kölner Behördenleiters offenbart ein viel tiefergehendes Defizit, das die Landespolitik verursacht hat. Roth hat auch hingeworfen, weil er die unausgewogene Personalpolitik in seiner Behörde nicht mehr mittragen wollte. Der Dissens entspann sich bereits unter Ex-Justizminister Peter Biesenbach. Der CDU-Politiker stampfte in seiner Ära reihenweise Leuchtturmprojekte aus dem Boden: eine Terrorabteilung, ein Sparte Organisierte Kriminalität bei der Staatsanwaltschaft in Düsseldorf, eine Zentral- und Ansprechstelle Cybercrime (ZAC) und die Cum-Ex-Schwerpunktabteilung. Die zwei letztgenannten Behörden verfügen über eine hohe Personalausstattung. Nach Angaben einer Justizsprecherin arbeitet fast jeder dritte Staatsanwalt der 220 Kölner Ankläger in den beiden Abteilungen. Intern sorgt dieser Quotient für erheblichen Unmut.
Kölner Staatsanwaltschaft verteilt hunderte Fälle auf andere Abteilungen
Dabei hatte Biesenbach Gutes im Sinn. Gerade sein Cum-Ex-Baby soll bundesweit den deutschen Finanzadel vor Gericht bringen. Die Zuständigkeit der Kölner Strafverfolger ergab sich, weil das Bundesamt für Steuern seinen Sitz in Bonn hat.
Vor der Kür aber harrt die Pflicht. Die Staatsanwälte in den allgemeinen Abteilungen, die den einfachen Diebstahl bis hin zur räuberischen Erpressung bearbeiten, gehen im Aufwand unter. In Düsseldorf schieben die Dezernenten demnach bis zu 300 Fälle vor sich her. In Duisburg liegen tausende Verfahren auf Halde. „Wir stehen vor dem Offenbarungseid“, berichtet ein Strafverfolger.
Der Verfahrensstau hat die Kölner Staatsanwaltschaft dazu veranlasst, hunderte Fälle aus allgemeinen Dezernaten auf andere Abteilungen zu verteilen. Auch die Cum-Ex-Abteilung soll sich mit Fällen der Allgemeinkriminalität beschäftigen, allerdings in überschaubarem Maße.
Gerade mal neun Fälle im Monat mussten die 30 Cum-Ex-Ermittler laut Oberstaatsanwalt Ulrich Bremer abarbeiten. Diese Zahl führe sicherlich nicht „zu nennenswerten Verzögerung bei Cum-Ex-Fällen“. Andere Sonderdezernate hätten ein Vielfaches übernommen. Zugleich monieren Kollegen den geringen Output der Cum-Ex-Sparte. Inzwischen ermittelt das Team von Staatsanwältin Anne Borhilker gegen 1700 Beschuldigte, darunter gegen Manager Dutzender renommierter Banken. Mit acht Anklagen fällt das Ergebnis bisher überschaubar aus.
Im Kölner Justizzentrum hieß es lange Zeit, dass man zunächst überall durchsuchen wolle, um die Verjährungsfristen zu unterbinden. Obschon üppig ausgestattet, kommen die Cum-Ex-Staatsanwälte allerdings mit der Auswertung der Akten nicht nach. Zwar hat der Bundesgerichtshof in einem richtungsweisenden Urteil die Masche als Steuerbetrug verurteilt. „Aber es fehlt am Unterbau, an einer ausreichenden Zahl von Steuerfahndern, die sich mit der Materie auskennen“, berichtet ein Kollege. Andere Bundesländer wie Bayern oder Hessen haben die Zahl der Steuerspezialisten hochgefahre, NRW nicht.
Mehr als 2000 Stellen bei den Gerichten und Staatsanwaltschaften in NRW sind unbesetzt
Bei den NRW-Staatsanwälten herrscht Notstand – sei es im Bereich des organisierten Verbrechens, Jugendkriminalität, Betrug, Totschlag: „Durch die Leuchtturmprojekte bleiben viele andere wichtige Verfahren liegen, weil die Staatsanwälte fehlen“, moniert ein Strafverfolger. Nach Angaben des NRW-Justizministeriums bleiben aktuell 1368 Stellen in der Gerichtsbarkeit und 493 bei den Staatsanwaltschaften unbesetzt. In Köln arbeiten zu 70 Prozent Staatsanwältinnen. 17 von ihnen befinden sich derzeit demnach wegen Mutterschaftsurlaubs außer Dienst. Zudem sind 20 Prozent der Stellen offen. Während andere Bundesländer den Mitarbeiterstamm auf 120 Prozent aufgestockt haben, hat Düsseldorf nicht reagiert.
Große Lücke gibt es auch im Unterbau: Bei den 240 Servicekräften in den Geschäftsstellen der Kölner Staatsanwaltschaft, quasi das logistische Rückgrat, fehlen Justizsekretäre, Angestellte, Rechtspfleger. Der Nachwuchs bleibt aus, die Arbeit gilt als zu schlecht bezahlt.
Dem gegenüber steht immer mehr Arbeit. Die Zahl der Ermittlungsverfahren stieg zwischen 2018 und 2022 laut Staatsanwältin Stefanie Beller um knapp zehn Prozent auf 327.000 – nicht nur wegen Cum-Ex. Das Ressort Organisierte Kriminalität registriert eine Kokain-Schwemme aus den Niederlanden; Raub, Messerattacken, Geldwäschefälle nehmen nach Angeben der Behörde massiv zu.
Ein Hauptstaatsanwaltsrat NRW berichtet, dass Justizminister Limbach bei einem Treffen zur Personalmisere im Juni auf die prekäre Haushaltslage hingewiesen habe. Für mehr Stellen gebe es kein Geld. Einzig für ein weiteres Leuchtturmprojekt seiner Partei hält die schwarz-grüne Landesregierung noch Mittel bereit: für eine Schwerpunktstaatsanwaltschaft gegen Umweltkriminalität.