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Wir haben überlebtWie zwei junge Kölnerinnen dem Tod entkommen sind – und was Leben für sie bedeutet

Lesezeit 7 Minuten
Jil Eileen Füngeling steht auf einer Anhöhe, im Hintergrund ist die Ruinenstadt Machu Picchu zu sehen.

Die erste Soloreise, nachdem sie 2022 einen Autounfall überlebt hatte: Im Herbst bereiste Jil Eileen Füngeling die peruanische Ruinenstadt Machu Picchu.

Ein Unfall oder Nierenversagen – eine tödliche Bedrohung ist keine Frage des Alters. Viktoriia Pelin und Jil Eileen Füngeling erzählen von ihrem Überleben.

Wenn es um Leben oder Sterben geht, wirken manchmal unwägbare Mächte: glückliche Fügungen, helfende Retter, Bruchteile von Sekunden.

Zwei jungen Kölnerinnen sind all diese Nuancen schon bekannt: Jil Eileen Füngeling (29) und Viktoriia Pelin (21). Sie haben überlebt.

Über ihre persönlichen Wunder, ihre Retter, übers Sterben und vor allem über den (neuen) Blick auf das Leben haben sie mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ gesprochen.

Jil Eileen Füngeling überlebte einen Autounfall: „Ein Wunder, dass ich wieder wach geworden bin“

Glücklich sein, auf ihren eigenen Füßen „durch die Nacht tanzen und das Leben feiern“, das plant Jil Eileen Füngeling für ihren 30. Geburtstag. Eigentlich nichts Ungewöhnlich für eine 29-Jährige – wäre da nicht ein Unfall gewesen, der sie am 11. September 2022 völlig unverhofft mit der Endlichkeit ihres Seins konfrontierte. „Da habe ich am eigenen Körper erlebt, wie schnell alles vorbei sein kann.“

Jil Eileen Füngeling sitzt in einem Rollstuhl

Nach einem Autounfall und dem 17-fachen Bruch ihrer Ferse rieten viele Ärzte Jil Eileen Füngeling zur Amputation – sie entschied sich dagegen.

An diesem Tag ist die Kölner Reisebloggerin mit ihrem Freund auf den Schotterstraßen Namibias Richtung Küste unterwegs, 300 Kilometer nur geradeaus. Kurz zuvor hatten beide ihre Wohnung aufgegeben, Möbel verkauft, Job gekündigt. „Wir wollten um die Welt reisen.“ Das Land im Südwesten Afrikas ist der erste Stopp. Zehn Tage lang ist es „die wunderschönste Reise“, erzählt sie. Bis ihnen ein Geisterfahrer frontal in die Beifahrerseite ihres Vans kracht, genau da, wo Füngeling sitzt.

Der Mann muss beim Überholen eines anderen Autos auf die Gegenspur gekommen sein, mutmaßt sie. Ganz genau weiß sie das nicht. Der Moment des Aufpralls sei aus ihren Gedanken gelöscht, die Erinnerungen verschwimmen in einer dichten Staubwolke. „Von der Autohälfte ist nicht mehr viel übrig“, sagt Füngeling. „Es ist fraglich, wie ich das überhaupt überleben konnte.“ Vielleicht war ihre kleine Statur ihr großes Glück, vielleicht verhinderten 159 Zentimeter Schlimmeres. Füngeling rätselt bis heute. Aber eigentlich ist sie auch froh, sich nicht erinnern zu können.

Ihr Körper entschied sich fürs Bleiben

Was der Körper in solchen Momenten anstellt, um schlimme Momente vergessen werden zu lassen, sei schon verrückt, sagt sie. „Der schaltet direkt aus, wenn er merkt, dass es eng wird. Und dann entscheidet er, ob er dich aufweckt – oder nicht.“ Füngelings Körper wählt nach 20 Minuten Bewusstlosigkeit demnach die Option Bleiben. „Mein Freund dachte, ich schaffe es nicht.“

Sie kehrt zurück, unter anderem mit Brüchen an beiden Händen, Brustbein, Rippen, Schulter und Becken. Ihr Gesicht ist von Glassplittern übersät. Ihr Fuß: Totalschaden. „Die Ferse war in 17 Teile gebrochen. Normalerweise ist das ein ganzer Knochen.“

Schutzengel hatte sie trotzdem. „Nicht nur einen“, sagt Füngeling. „Eigentlich ist es ein Wunder, dass ich überhaupt wieder wach geworden bin und dass zufälligerweise ein Ersthelfer da war – sogar ein Deutscher.“ In der sonst menschenleeren Gegend hält eine weitere Frau: eine niederländische Unfallchirurgin, die ihre Flitterwochen in Namibia verbringt. Gemeinsam ziehen die Retter die junge Frau über das Fenster aus dem Auto heraus: „Das waren die schlimmsten Schmerzen, die ich jemals hatte und jemals wieder haben werde.“

Eigentlich ist es ein Wunder, dass ich überhaupt wieder wach geworden bin
Jil Eileen Füngeling

Drei Tage verbringt Füngeling im Anschluss im lokalen Krankenhaus. „Der Arzt hat mir da bereits gesagt, dass ich nie wieder laufen werde, weil mein Fuß so kaputt ist.“ Mehr als 20 Fußspezialisten in ganz Europa raten zur Amputation. Abfinden will sie sich damit nicht. „Ich bin ein Flummi, ein super aktiver Mensch.“ Skifahren, Wandern, Surfen, unterwegs in der Welt, all das bestimmte bis zu jenem Septembertag ihr Leben.

Nur ein einziger Arzt macht ihr Hoffnungen, wenn auch ohne Garantie: Bertil Bouillon, Professor der Unfallchirurgie am Klinikum in Merheim. Dass es ausgerechnet Köln – ihre Heimatstadt – war, sei eigentlich auch Teil des Wunders. Nach zwei Monaten, diversen Operationen und einer Knochentransplantation wird Füngeling im Rollstuhl entlassen. „Wenn alles gut läuft, können Sie in einem Jahr wieder stehen“, so die Prognose.

Vollzeitjob Heilung

In dem Moment startet ihr Vollzeitjob: Heilung. Statt Weltreise sucht sich das Paar ein neues Zuhause in den Niederlanden, direkt am Meer. Die Leidenschaft fürs Reisen bleibt. Und auch ihren Beruf gibt die Influencerin nicht auf. Mit über 370.000 Menschen teilt sie bei Instagram ihren Weg zurück ins Leben. Aus einem pflegebedürftigen Unfallopfer wird nach und nach wieder die Weltenbummlerin von früher.

Den Strand auf den Malediven zum Beispiel erkundetet die Kölnerin mit einem elektrischen Offroad-Rollstuhl. Es schließen sich viele erste Male an. „Wir alle wissen nicht, wie es ist, das erste Mal als Kind gesessen zu haben, an die ersten Gehversuche, das erste Mal am Strand, auf allen Vieren ins Wasser robben, Hauptsache am Meer sein.“ All das erlebe sie nun, mit Ende 20.

Die ersten Schritte macht sie sieben Monate nach dem Unfall. „Ja, ich hätte drauf verzichten können, aber irgendwie ist es auch total besonders.“

Schmerzen wird Jil Eileen Füngeling wohl ihr ganzes Leben haben. Von ihnen und den Erinnerungen einschränken lassen, will sie sich aber nicht. „Ich liebe das Leben so sehr, dass ich weiterhin schöne Momente erleben will.“ Zum Beispiel bei „einer fetten Party“ zu ihrem 30. Geburtstag.


Viktoriia Pelin überlebte eine Niereninsuffizienz: „Zu leben ist wunderschön“

Pizza, Limonade und Kaktuseis – das ist der Geschmack des Lebens, zumindest für Viktoriia Pelin. Das erste Mal davon kosten konnte die heute 21-Jährige im Jahr 2014. Damals spendete ihr ihr Vater in der Uniklinik Köln eine Niere. Sie sagt, er schenkte ihr auch das Leben. Noch ein paar Tage länger, „und ich hätte es nicht überlebt.“

Viktoriia Pelin steht im hell beluchteten Foyer der Uniklinik.

In der Uniklinik Köln und dem KfH-Nierenzentrum für Kinder und Jugendliche spendete der Vater von Viktoriia Pelin seiner Tochter eine Niere.

Zu dem Zeitpunkt hatte ihre Niereninsuffizienz bereits das Endstadium erreicht – Viktoriia war elf. Es ist nicht das erste Mal, dass es bei der gebürtigen Ukrainerin um Leben und Tod geht. „Ich habe mich schon davor mit dem Thema beschäftigt, als kleines Kind. Ich wusste, was mit mir los ist. Was das angeht, war ich eine erwachsene Person.“

In dieser Zeit wurde mein Bruder geboren. Es war meine einzige Motivation, noch zu kämpfen
Viktoriia Pelin

Eine genetische Nierenerkrankung, die Nephronophthise, hatte die ganze Kindheit geprägt. Die Erkenntnis, dass das Leben keine Selbstverständlichkeit ist, hatten Pelins Eltern und sie selbst schon früh machen müssen.

Mit etwas über einem Jahr machten sich ihre Nieren-Probleme zum ersten Mal bemerkbar, bis ins Kindergartenalter war sie immer wieder krank. In der Grundschule dann die Diagnose: Insuffizienz, die Nieren arbeiteten nicht richtig, der Organismus vergiftete. Mit acht Jahren wog Pelin weniger als 20 Kilogramm. Eine Untersuchung nach der anderen folgte, manchmal schmerzhaft und gegen ihren Willen. „Das hat Spuren hinterlassen“, sagt sie, und kommt bei den Erinnerungen auch heute noch ins Stocken. Eine Ursache für das Nierenversagen haben die Ärztinnen und Ärzte in ihrer Heimat trotzdem nicht finden können.

Krankenhaus-Odyssee: Von der Ukraine über Israel zum KfH-Kinderzentrum nach Köln

„In dieser Zeit wurde mein Bruder geboren. Ich habe seine ersten Monate verpasst. Aber das war meine einzige Motivation, noch zu kämpfen“, sagt sie. Was sich anschloss, glich einer Krankenhaus-Odyssee durch Kliniken auf der ganzen Welt: Israel, Weißrussland, Deutschland – auf der Suche nach einem geeigneten Spenderorgan. Denn das Problem: In der Ukraine werde zwar auch transplantiert, damals aber nicht zwischen verschiedenen Blutgruppen, die wiederum die Familie Pelin aufwies.

Erst in Köln, am KfH-Nierenzentrum für Kinder und Jugendliche der Uniklinik, findet man eine Lösung. Doch bevor es zur Spende kommt, muss sie erst zur Dialyse. „Das war hier ein Traum“, erinnert sich Pelin. Statt kalter Räume, metallener Türen und der Trennung von den Eltern erlebt sie nun das Kontrastprogramm. Die jahrelange Schonkost hatet ein Ende, erzählt Pelin. Sie kann wählen, zwischen Orangen- und Zitronenlimonade, zwischen Pizza Thunfisch, Salami und Margherita. Die Wahl fällt auf Salami, zum Nachtisch das Kaktuseis. Es seien gute Erinnerungen. „Auch wenn die Woche vor der Transplantation die schwierigste meines Lebens war.“

Zu leben ist wunderschön
Viktoriia Pelin

Doch sie hält gerade so durch und schafft es bis zum 26. September. Mit seiner Spende wird ihr Vater an diesem Tag zu ihrem persönlichen Helden. „Er hätte in Kauf genommen, ohne Niere zu leben, damit ich eine bekomme.“

Das Datum der Operation feiert sie seitdem wie ihren Geburtstag. In diesem Jahr sind Pelin und ihre Niere zehn Jahre alt geworden. Die Familie blieb in Köln, Pelin lernte Deutsch, meisterte Realschulabschluss, Fachabi und Hochschulreife. Seit diesem Semester studiert sie in Bonn: molekulare Biomedizin. Sie engagiert sich ehrenamtlich bei dem Verein Kio („Kinderhilfe Organtransplantation“), klärt über Organspende auf, „um Menschen zu zeigen, wie wichtig dieses Thema ist.“

Die Sorge um ihr eigenes Spenderorgan werde immer bleiben. Trotzdem: „Zu leben ist wunderschön“, sagt sie.