Berlin – Eineinhalb Stunden lang bleibt Frank-Walter Steinmeier ruhig. Sehr ruhig. Dann bricht ein „Nee, das glaube ich nicht” aus ihm heraus.
„Die Zahlen sprechen doch eine klare Sprache”, hat ihm die Lehrerin Gudrun Gessert aus Baden-Württemberg gerade vorgehalten. Sie versucht, mit einzelnen Kennziffern zu widerlegen, „dass Ungeimpfte egoistischerweise die Krankenhäuser füllen”. Steinmeier hält mit wissenschaftlichen Erkenntnissen und anderen Zahlen dagegen.
Der Bundespräsident hat zu einer Diskussionsrunde zum Für und Wider einer allgemeinen Impfpflicht geladen. Darüber wolle man miteinander diskutieren „und gerne auch respektvoll streiten”, sagt Steinmeier. Und diesen respektvollen Streit bekommt er denn auch. Einige der Teilnehmer sitzen im Großen Saal seines Amtssitzes Schloss Bellevue, andere wie Gessert sind aus der Ferne zugeschaltet.
Gessert betont vehement, nicht gegen das Impfen, aber sehr wohl gegen eine Impfpflicht zu sein. „Die Impfpflicht ist nicht geeignet, um die Pandemie überwinden zu können”, erklärt die Lehrerin, die Steinmeiers Frage, ob sie selbst geimpft sei, offen lässt. „Eine Impfpflicht ist problematisch für die Gesellschaft, weil sie polarisiert”, lautet eines ihrer Argumente. Eine Impfpflicht wäre „medizinisch in keinem Fall vertretbar”, lautet ein anderes.
Gessert stellt die Wirksamkeit der Impfstoffe in Frage, bescheinigt ihnen gefährliche Nebenwirkungen und warnt vor einer Endlosschleife aus Impfen und Boostern. Ganz ähnlich argumentiert der aus Bamberg zugeschaltete Oliver Foeth. Er hält es für „unmoralisch, bei den Erkenntnissen, die wir über die zur Verfügung stehenden Impfstoffe haben, den Menschen eine Impfpflicht beziehungsweise einen Impfzwang durch Verordnung aufzuerlegen.”
Den Zweiflern an der Wirksamkeit der Impfstoffe hält Prof. Kai Nagel von der TU Berlin entgegen, dass das Impfen bei der Delta-Variante sehr wohl der „game changer” gewesen sei, also die Infektionszahlen runtergebracht habe. „Bei der Omikron ist es das jetzt in Bezug auf die Inzidenzen nicht mehr, in Bezug auf die schweren Verläufe aber sehr wohl”. Nagel entwickelt Modelle zur Ausbreitung des Virus. „Bei Omikron ist ein bisschen die Frage, ob wir mit einem blauen Auge davonkommen oder nicht”, sagt er. Für diese Variante käme eine Impfpflicht ohnehin zu spät.
Ob sie überhaupt etwas brächte, ist aus Sicht von Cornelia Betsch fragwürdig. Die Professorin aus Erfurt hat Langzeitstudien zu Einstellungen und zum Verhalten von Geimpften und Ungeimpften initiiert. „Unter den Leuten, die in unseren Befragungen ungeimpft sind, sagt die überwiegende Mehrheit eigentlich: Ich will mich auf keinen Fall impfen lassen.” Das seien 60 bis 70 Prozent.
Es gebe viele Möglichkeiten, Menschen zum Impfen zu bewegen, sagt die Wissenschaftlerin. Man müsse sich vor allem fragen, warum sie sich nicht impfen lassen wollten. Die Forschung zeige, dass sehr viele einfach Angst davor hätten. „Dadurch wird das psychologisch gesehen eine heiße Debatte, etwas Emotionales. (...) Wenn man Angst vor etwas hat und es droht eine Pflicht, dann löst das in den Menschen auch ein Gegengefühl aus.”
Wie stark sich dieses „Gegengefühl” gerade in der Republik aufbaut, zeigen die zahlreicher und teilweise krawalliger werdenden Demonstrationen von Impf- und Impfpflichtgegnern.
Dies dürfte Steinmeier im Kopf gehabt haben, als er von der Politik eine besonders sorgfältige Debatte in dieser Frage anmahnte. „Eine solch außerordentliche Maßnahme stellt unseren Staat auch in eine außerordentliche Pflicht vor seinen Bürgerinnen und Bürgern. Kurz gesagt: Impfpflicht bedeutet Debattenpflicht.” An die Begründung einer solchen außerordentlichen Maßnahme müsse man besonders hohe Ansprüche stellen - umso mehr, da die Politik eine Impfpflicht lange Zeit explizit ausgeschlossen habe.
„Eine allgemeine Impfpflicht ist für Bundestag und Bundesregierung gewiss kein gesetzgeberischer Alltag, und genauso darf auch der Prozess der Debatte, der Abwägung und Begründung nicht alltäglich sein”, sagt Steinmeier. Indirekt redet er damit dem Verfahren der Ampel-Koalition das Wort, die Frage nicht über einen Gesetzentwurf der Regierung, sondern über fraktionsübergreifende Gruppenanträge im Bundestag zu klären.
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