AboAbonnieren

Rechtsextreme RhetorikFrüher stand hier ein KZ – nun will die AfD das Rathaus erobern

Lesezeit 8 Minuten
Ein Wahlplakat von Jörg Prophet, AfD-Kandidat für die Oberbürgermeister-Wahl in Nordhausen, steht in der Innenstadt von Nordhausen.

Ein Wahlplakat von Jörg Prophet, AfD-Kandidat für die Oberbürgermeister-Wahl in Nordhausen, steht in der Innenstadt von Nordhausen.

In Nordhausen am Harz lag früher das berüchtigte KZ Mittelbau-Dora. Ausgerechnet dort könnte am Sonntag der AfD-Kandidat Jörg Prophet zum OB gewählt werden.

Am Hang des Kohnsteins bei Nordhausen liegen die Orte des Grauens, die Stollen, das Krematorium, der Appellplatz des nationalsozialistischen Konzentrationslagers Mittelbau-Dora. Wer sich umdreht und neben das nüchterne, moderne Museumsgebäude der Gedenkstätte tritt, blickt hinunter auf die Stadt Nordhausen, sieht ihre Türme und Hochhäuser. Oben und unten, das Gestern und das Heute.

60.000 Menschen litten im Lagerkomplex Mittelbau-Dora, in den Stollen des Kohnsteins, wo die Kriegsmaschinerie der Nazis ab 1943 eine unterirdische Produktion für Flugzeuge und die „Wunderwaffe“ V2 aufbaute. 20.000 Häftlinge überlebten die Torturen nicht. Wer zu schwach zum Arbeiten war, wurde ins „Kranken- und Sterbelager“ nach Nordhausen heruntergeschickt.

8800 Menschen, darunter mehr als 1000 KZ-Häftlinge, starben in Nordhausen einen Monat vor Kriegsende durch einen verheerenden britischen Bomberangriff.

Historische Traumata kommen wieder hoch

Die Traumata der NS-Herrschaft und des Zweiten Weltkriegs waren in der 42.000-Einwohner-Stadt Nordhausen immer greifbarer als anderswo. Aber plötzlich sind sie wieder ganz aktuell.

Warum? Weil am Sonntag in Nordhausen ein AfD-Kandidat, dem der Verfassungsschutz ein „geschlossenes geschichtsrevisionistisches Weltbild“ zuschreibt, zum Oberbürgermeister gewählt werden könnte. Und weil ein Historiker alles in seiner Macht Stehende tut, um das zu verhindern.

Damit steht das kleine Nordhausen im Zentrum einer viel größeren Frage, die nicht erst durch die Reaktionen um das Aiwanger-Flugblatt erschreckende Aktualität bekommen hat: Was ist geblieben vom erinnerungspolitischen Konsens über die NS-Vergangenheit, über Ausgrenzung, Verfolgung, Ermordung?

Gedenkstättenleiter gegen AfD-Kandidat

Unten steht der AfD-Politiker Jörg Prophet, 61, an einem Wahlkampfstand vor der Arbeitsagentur. Der Unternehmer trägt weißes Hemd und schwarze Hosenträger, das Outfit ist sein Markenzeichen, es soll seriös und nahbar zugleich wirken.

Oben steigt Jens-Christian Wagner aus seinem Kombi, er trägt Jeans, dunkelgrünes Hemd, dunkles Jackett: Akademikeruniform.

Der 57-jährige Historiker leitet die thüringische Gedenkstättenstiftung, zuständig für Buchenwald und Mittelbau-Dora. Kaum jemand kennt die Geschichte Nordhausens und seines Lagers so detailliert wie er.

Wagner wuchs 40 Kilometer entfernt in Herzberg am Harz auf, er schrieb über Mittelbau-Dora seine Magisterarbeit, er wurde auch dazu promoviert und leitete 13 Jahre lang die Gedenkstätte. 2014 zog er aus Nordhausen weg, der Stadt fühlt er sich nach wie vor verbunden.

Wagner tritt neben das Museumsgebäude, blickt auf die Stadt hinunter und sagt: „Wir haben uns lange überlegt, ob wir uns so klar positionieren. Aber wir haben keine andere Wahl.“

Jörg Prophet, AfD-Kandidat für die Oberbürgermeister-Wahl in Nordhausen

Jörg Prophet, AfD-Kandidat für die Oberbürgermeister-Wahl in Nordhausen

Am 24. September wählen die Nordhäuserinnen und Nordhäuser ein neues Stadtoberhaupt. AfD-Mann Prophet lag im ersten Wahlgang mit 42 Prozent vorne, sein parteiloser Gegenkandidat Kai Buchmann ist wegen einer Suspendierungsaffäre beschädigt. Sollte Prophet gewählt werden, würde die AfD ihren dritten kommunalen Wahlerfolg dieses Jahres einfahren und erstmals einen Oberbürgermeister stellen.

Verharmlosung des Holocausts und rechtsextreme Rhetorik

Wagner nennt einen möglichen Wahlsieg Prophets eine „Katastrophe für Mittelbau-Dora und die gesamte Stadt Nordhausen“. Der AfD-Kandidat betreibe Holocaust-Verharmlosung und verhöhne die Opfer des NS-Terrors, wirft er ihm vor.

Zum Beleg zitiert Wagner aus drei Texten, die Prophet in den vergangenen Jahren auf der Homepage der AfD Nordhausen veröffentlicht hat. Es sind Texte, die ein oberflächlicher Leser für harmlos halten könnte, die aber voller rechtsextremer Stereotypen und Anspielungen stecken. In einem Beitrag mit dem Titel „Gedanken zum Jahrestag der Luftangriffe auf Nordhausen“ vom April 2020 fordert Prophet den „Wandel vom Schuldkult zum Demokratiekult“. Der Begriff „Schuldkult“ wird seit vielen Jahren von Rechtsextremen verwendet, um die NS-Erinnerungskultur zu schmähen.

Er spricht im Zusammenhang mit Nachkriegsdeutschland von einem „Agrarland in der Mitte Europas“ und spielt damit auf den kurzlebigen Morgenthau-Plan von 1944 an, der eine Deindustrialisierung Deutschlands vorsah, aber von US-Präsident Roosevelt sofort verworfen wurde.

Er wirft den US-Amerikanern „Morallosigkeit“ vor und schreibt: „Es zeigte sich das wahre Gesicht der Befreier, als sie das unzerstörte Konzentrationslager Mittelbau-Dora mit der unterirdischen Rüstungsproduktion übernahmen und sich das holten, was sie scheinbar antrieb: Vorsprung durch Inbesitznahme von Technologien des Tötens, um die eigene Stellung in der Welt zu sichern.“

Es ist dieser Text, den der Thüringer Verfassungsschutz ohne Namensnennung des damals noch unbekannten AfD-Politikers ausführlich analysiert. Dem Verfasser, also dem heutigen OB-Kandidaten Prophet, wird die „Rhetorik des klassischen Rechtsextremismus“ attestiert.

AfD-Kandidat spricht mit Reporter, aber will seine Antworten nicht veröffentlicht sehen

Unten in der Stadt am Wahlkampfstand nimmt sich Prophet zwar Zeit für die Fragen des Reporters. Das Lager und die Stadt seien untrennbar miteinander verbunden, meint der Kandidat. Dann aber möchte er seine Antworten nicht veröffentlicht sehen. Nur so viel sei gesagt: Mit dem Ausdruck „Schuldkult“ hat er nach wie vor kein Problem. Und auch die Beiträge auf der Website sind weiter abrufbar.

Oben in der Gedenkstätte betont Wagner, dass Prophet bei offiziellen Gedenkveranstaltungen nicht erwünscht sei – ebenso wie der rechtsextreme AfD-Landeschef Björn Höcke in Buchenwald. Und dass die Gedenkstätte unter einem AfD-OB nicht mehr mit der Stadt zusammenarbeiten werde. Die für nächstes Jahr in der Stadtbibliothek geplante Ausstellung zu queeren KZ-Häftlingen würde dann eben in der Hochschule Nordhausen gezeigt. Die Zivilgesellschaft beginnt schon zusammenzurücken, bevor die AfD das Rathaus erobert hat.

Wir haben uns lange überlegt, ob wir uns so klar positionieren. Aber wir haben keine andere Wahl.
Jens-Christian Wagner, Historiker und Leiter der thüringischen Gedenkstättenstiftung

Überlebendenverbände und das Internationale Auschwitz-Komitee äußern ihre Sorge über einen Rechtsruck in Nordhausen. Ein Bündnis „Nordhausen zusammen“ warnt vor dem „geschichtsvergessenen Kandidaten“ Prophet.

Das war auch am vergangenen Samstag zu spüren. An einem sonnigen Nachmittag lud Prophet zum Bürgerfest vor dem Rathaus zusammen mit AfD-Chef Tino Chrupalla und dem Europawahl-Spitzenkandidaten Maximilian Krah.

Auch Krah bedient die geschichtsrevisionistische Schiene, auch in Nordhausen. In einem Tiktok-Video sagte er kürzlich: „Unsere Vorfahren waren keine Verbrecher. Wir haben allen Grund, stolz auf unser Land zu sein.“ Vor dem Rathaus wiederholt er den ersten Satz, er erinnert er an die Toten des Bombenangriffs und schweigt über die Verbrechen im Konzentrationslager.

500 Menschen folgen den Worten der AfD-Politiker, etwa die Hälfte steht auf der Gegendemo, eilig per Mundpropaganda zusammengetrommelt. Jens-Christian Wagner ist auch da, er hält ein Transparent mit dem Logo der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora und dem Satz „Geschichte begreifen – für die Zukunft handeln“.

Das ist leicht gesagt, aber haben die KZ-Gedenkstätten in Deutschland das in den vergangenen Jahren auch getan? Oder haben sie sich überraschen lassen vom Kippen der Stimmung in den vergangenen Jahren?

Rechtsextreme Attacken auf Gedenkstätten nehmen zu

Fest steht: Die Gedenkstätten beobachten seit Monaten eine stärkere Präsenz von Rechtsextremen. Das geht aus einer Umfrage des RedaktionsNetzwerks Deutschland (RND) hervor. Die KZ-Gedenkstätten Dachau, Buchenwald, Bergen-Belsen, Neuengamme, Sachsenhausen und Ravensbrück verzeichnen einen Anstieg von Vandalismus, Hakenkreuz-Schmierereien, verstärkter Präsenz von Rechtsextremen sowohl vor Ort als auch im Internet und Zerstörung von Informationsstellen. Die Vorfälle seien „ein Seismograf dafür, dass versucht wird, diese Grundfeste der heutigen Bundesrepublik ins Rutschen zu bringen“, sagte der stellvertretende Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, Rikola-Gunnar Lüttgenau, dem RND.

Auch die anderen Gedenkstätten zeigen sich besorgt. „Die Grenzen des Sagbaren werden seit einiger Zeit verschoben und demokratiefeindliche und rechtsradikale Ansichten erscheinen hoffähig geworden zu sein“, sagte eine Sprecherin der Gedenkstätte Bergen-Belsen. Exemplarisch dafür seien Aussagen der AfD.

Auch der Historiker kritisiert Formen der Erinnerungskultur

Die Gedenkstätten seien in der Vergangenheit der Gefahr erlegen, „in Pathos und Ritualen zu erstarren“, sagt Wagner in einer bemerkenswerten Kritik an der Erinnerungslandschaft, deren Teil er selber ist. Der Fehler sei gewesen, „dass wir uns zu sehr darauf beschränkt haben, um die Opfer zu trauern, ohne zu fragen, warum diese Menschen überhaupt zu Opfern wurden, wer sie zu Opfern gemacht hat“. Nur die „radikal rassistisch formierte“ NS-Volksgemeinschaft konnte die Täter und Täterinnen, die Profiteure und Profiteurinnen der Ausgrenzung, Verfolgung und Vernichtung hervorbringen.

Den Deutschen wurde erzählt, wenn es anderen schlechter geht, geht es euch besser.
Jens-Christian Wagner, Historiker

In der Ausstellung in Mittelbau-Dora nehmen die Täter breiten Raum ein, vom sadistischen SS-Schläger bis zum Raketenwissenschaftler Wernher von Braun und Munitionsminister Albert Speer, die über die mörderischen Bedingungen in den Stollen unter dem Kohnstein nur zu genau Bescheid wussten. Seit 2006 gibt es diese Ausstellung bereits. Acht Jahre später wurde Wagner Leiter der niedersächsischen Gedenkstätten und fand in Bergen-Belsen eine Ausstellung vor, in der die Täter nicht erwähnt wurden. „Das war eine bewusste Entscheidung. Man wollte ein Ort sein, an dem die Opfer geehrt werden.“

Wagner hält das für falsch. „Es ist eine banale Feststellung: Ohne Täter keine Opfer.“ Die nationalsozialistische Gesellschaft habe über „Verheißung und Ausgrenzung“ funktioniert: „Den Deutschen wurde erzählt, wenn es anderen schlechter geht, geht es euch besser.“

Keine schiefen Vergleiche, sondern Mechanismen verstehen

Wagner redet sich fast in Rage, bleibt aber dennoch der kühl analysierende Historiker. „Ich warne vor schiefen Vergleichen. Wir haben nicht 1933.“ Doch „Geschichte begreifen – für die Zukunft handeln“ bedeute eben auch, die Mechanismen der Ausgrenzung vor 90 Jahren zu verstehen und mit heute zu vergleichen, wenn queere Menschen oder Migrantinnen und Migranten die Opfer seien.

Am Sonntag könnte Nordhausen eine andere Stadt sein. Und in einem knappen Jahr ist Landtagswahl in Thüringen, die AfD liegt mit großem Abstand vorne.

Kollegen fragen Wagner bereits, ob er dann einen Job in einem anderen Bundesland braucht. Er antwortet darauf ganz ernsthaft: Die Struktur der Gedenkstätten-Stiftung sei stabil, und zudem habe er noch einen Lehrstuhl an der Universität Jena. Auch ein Höcke, heißt das, wird den kämpferischen Wagner nicht so schnell los.