Putins neue Oreschnik-Rakete und die Drohung mit einem schweren Angriff auf Kiew sorgen in der Nato für große Sorgen.
Russlands neue RaketeSelbst die Nato würde einen Oreschnik-Angriff kaum abwehren können
Die Lage ist düster auf den Schlachtfeldern in der Ukraine. Tag für Tag gelingen den russischen Streitkräften unter hohem Blutzoll kleinere Gebietsgewinne südlich von Pokrowsk im Donbass, während die ukrainischen Soldaten mehr und mehr zu ihrer ersten Verteidigungslinie zurückgedrängt werden. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj musste bereits einräumen, dass die ukrainischen Truppen derzeit nicht in der Lage sind, die verlorenen Gebiete zurückzugewinnen.
Nun kommt noch eine bisher nicht einkalkulierte Bedrohung durch die neuartige Oreschnik-Rakete der Russen hinzu, die mit nuklearen Gefechtsköpfen bestückt werden kann. „Putin verschärft seine Rhetorik und seine rücksichtslosen Handlungen. Er benutzt die Ukraine als Testgelände für experimentelle Raketen“, sagte Nato-Generalsekretär Mark Rutte am Dienstag in Brüssel zu Beginn des Nato-Außenministertreffens.
In einem Telefonat mit Rutte hatte Selenskyj zuvor um geeignete Luftraumverteidigungssysteme gebeten. Denn der russische Präsident droht damit, die nächsten Oreschnik-Raketen auf Entscheidungszentren in Kiew abzufeuern. Bei einem gemeinsamen Dinner mit ihrem neuen ukrainischen Amtskollegen Andrij Sybiha wollten die Nato-Außenminister über die schwierige Lage an der Front und weitere Hilfe beraten. Erst in den letzten Tagen hatten die USA, Deutschland, Schweden, Estland, Litauen und Norwegen weitere Militärhilfe angekündigt. „Aber wir alle müssen mehr tun, vor allem jetzt“, sagte Rutte.
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Keine Bewegung bei neuen Raketenabwehrsystemen für die Ukraine
Dennoch gibt es nach Informationen des RedaktionsNetzwerks Deutschland (RND) keine Bewegung innerhalb der Nato, der Ukraine entscheidende Raketenabwehrsysteme zum Schutz von Kiew gegen Oreschnik-Angriffe zu liefern. „Wir würden uns selbst schwertun, einen größeren Angriff abzuwehren“, räumte ein Nato-Diplomat ein.
Tatsächlich steckt das Militärbündnis in einem Dilemma: Mit den bereits bestehenden Luftraumverteidigungssystemen wie dem von Deutschland gelieferten Patriot-System kann die Ukraine die Langstreckenrakete Oreschnik nicht abfangen. Auch Raketenabwehrsysteme der Nato wie Arrow 3 und THAAD sind dafür nicht optimiert. „Um gegen eine Oreschnik auf großem Gebiet effektiv zu verteidigen, kann die Nato eine ganz bestimmte SM‑3-Rakete mit dem Raketenabwehrsystem Aegis Ashore einsetzen“, sagt Raketenforscher Fabian Hoffmann von der Universität Oslo dem RND.
Dieses System gibt es in Rumänien und Polen. „Allerdings stößt der Aegis-Schutzschirm bereits bei zwei bis drei Oreschnik-Raketen an seine Grenzen.“ Der Grund: Die neue Rakete der Russen greift mit ihren sechs einzelnen Gefechtsköpfen unterschiedliche Ziele gleichzeitig an. In der Nato verwendet man aber für jede anfliegende Bedrohung drei Abfangraketen, um einen hohen Schutz zu gewährleisten. Bereits bei zwei Oreschniks reichen die 24 Abfangraketen von Aegis also nicht mehr aus, sagt Hoffmann. Ein weiteres Problem für die Nato sei, dass Aegis Ashore überhaupt nur dann auf weiter Fläche verteidigen könne, wenn es mit diesen ganz speziellen Raketen bestückt sei. „Sonst ist die Wahrscheinlichkeit ziemlich gering, die Sprengköpfe der Oreschnik abzufangen“, so der Experte.
In Nato-Kreisen weiß man um dieses Sicherheitsproblem. Doch einerseits können die Gefechtsköpfe der Oreschnik Ziele nicht präzise anfliegen, sodass Schäden an strategisch wichtigen Orten Glückstreffer wären. Andererseits setzt die Nato auf Abschreckung und warnt Russland wiederholt, das Bündnis nicht auf die Probe zu stellen.
Debatte über Friedenstruppen bei Waffenstillstand
Aus Sicht von Nato-Diplomaten werden die nächsten Wochen für die Ukraine entscheidend. „Jetzt kommen wir in eine neue, sehr komplizierte und schwierige Phase des Konflikts“, sagte ein anderer Diplomat. „In den nächsten Wochen werden die Weichen für die Zukunft der Ukraine gestellt.“ Russland will die Ukraine in die schlechteste Ausgangslage bringen, sollte Kiew im Januar vom nächsten US-Präsidenten Donald Trump an den Verhandlungstisch gezwungen werden. In der Nato befürchten viele Bündnismitglieder, dass die Ukraine geschwächt aus den Verhandlungen hervorgehen könnte – und Russland seine Einflusssphäre weiter auf das Nachbarland auszuweiten versucht. „Putin ist nicht an Frieden interessiert“, stellte Rutte am Dienstag klar. Der Kremlchef glaube, er könne die Entschlossenheit der Ukraine und der Nato-Mitglieder brechen. „Aber da liegt er falsch.“
Immer häufiger gibt es hinter der Fassade des Nato-Hauptquartiers bereits Diskussionen, wie die Ukraine bei einem möglichen Waffenstillstand unterstützt werden könnte. Die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas, die an den Nato-Beratungen am Dienstag ebenfalls teilnahm, hält auch europäische Friedenstruppen für möglich. „Ich denke, wir sollten wirklich nichts ausschließen“, sagte sie vor wenigen Tagen. Zuvor hatten sich bereits mehrere baltische Staaten und Frankreich grundsätzlich offen gezeigt, eigene Soldaten für Ausbildungsmissionen oder die Wartung westlicher Waffen in die Ukraine zu entsenden. Nato-Generalsekretär Rutte wollte auf mögliche Pläne nicht näher eingehen. Die militärische Unterstützung der Ukraine habe derzeit Priorität, sagte er.