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Evakuierungen in der Ostukraine„Viele denken, sie werden nur zwei, drei Wochen weg sein“

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Ein Freiwilliger des Ukrainischen Roten Kreuzes hilft einer Bewohnerin im Rahmen einer Evakuierung am 14. August in ein Auto.

Ein Freiwilliger des Ukrainischen Roten Kreuzes hilft einer Bewohnerin im Rahmen einer Evakuierung am 14. August in ein Auto. Teams des Roten Kreuzes reagierten weiterhin auf Evakuierungsanfragen von Zivilisten, die in der Nähe der nordöstlichen Frontlinie in der Region Kupjansk leben, wo Russland in letzter Zeit seine Angriffe verstärkt hat.

Die ukrainische Regierung hat zur Evakuierung der Gegend bei Kupjansk aufgerufen. Doch viele wollen nicht gehen, beobachten Helfer.

Ein Fall hat Igor Bodina besonders berührt. Ein junges Paar aus der Gegend um Kupjansk kam in der letzten Woche zu ihnen ins Aufnahmezentrum für Geflüchtete in Charkiw, erzählt der Mitarbeiter des International Rescue Committee (IRC) dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND).

Die Frau war 18 Jahre alt, ihr Freund 16 und das Kind, ein kleiner Junge, erst sechs Monate. „Stellen Sie sich vor, das sind ja selbst noch Kinder, nun haben sie ein kleines Baby und müssen fliehen.“

Im Stadtzentrum von Charkiw, mehr als 100 Kilometer von der Front entfernt, ist eine ehemalige Schule zur Erstaufnahmeeinrichtung für geflüchtete Ukrainerinnen und Ukrainer aus dem Osten des Landes geworden. Täglich kommen hier bis zu 100 Menschen aus der Gegend um Kupjansk an, wie das junge Paar mit dem Baby. „Wir haben ihnen Windeln und Babynahrung für die nächste Zeit gegeben“, erzählt Bodina. „Wir haben alles getan, was in unserer Macht steht.“

Schwere Angriffe der russischen Armee in Richtung Kupjansk

Nirgendwo in der Ukraine gibt es so viele Binnenflüchtlinge wie in der Region Charkiw. Mehr als 400.000 Menschen sind es laut der Behörden. Jetzt könnten es noch mehr werden: Die russische Armee führt schwere Angriffe in Richtung Kupjansk durch, sodass die ukrainische Regierung vor zwei Wochen zur Evakuierung aufgerufen hat. 10.000 bis 11.000 Menschen sind betroffen, doch viele wollen bleiben, sagt Bodina. „Niemand ist gezwungen, die Gebiete in der Nähe der Frontlinie zu verlassen und sich vor dem Beschuss in Sicherheit zu bringen.“ Die Evakuierung sei schließlich nicht verpflichtend.

Seit etwa einem Monat gibt es russische Angriffe in Richtung Kupjansk, die von der ukrainischen Armee aber weitgehend zurückgeschlagen werden konnten. Doch nun gibt es Bewegung: In den letzten Tagen wurden mehrere Brücken am Fluss Oskil zerstört, der sich von Norden her an Kupjansk entlang schlängelt. Unklar ist, ob diese Angriffe von Russland oder der Ukraine ausgingen.

„Wenn es sich um gezielte Luftangriffe der Russen handelt, versucht man den Ukrainern den Rückzug abzuschneiden und die Logistik zu erschweren“, sagt Oberst Markus Reisner vom österreichischen Bundesheer dem RND. Handele es sich um Sprengungen der Ukrainer, fürchte man offenbar einen Durchbruch und wolle den russischen Vormarsch verlangsamen.

Manche verlassen überstürzt ihr Zuhause

Die russische Armee habe zwar messbare Erfolge in Richtung Kupjansk erzielt, sagt der Militärexperte, ein Durchbruch sei aber noch nicht in Sicht. „Die Zerstörung der Brücken könnte ein Versuch sein, die ukrainischen Truppen einzukesseln und vom Munitionsnachschub abzuschneiden.“ Außerdem sollen so viele ukrainische Reserven wie möglich im Osten gebunden werden, damit sie bei der Offensive im Süden nicht eingesetzt werden können. Die Evakuierung von Ortschaften ist für ihn ein klares Zeichen dafür, dass die Ukraine einen größeren russischen Angriff bei Kupjansk für möglich hält.

Trotzdem wollen viele Bewohnerinnen und Bewohner ihre Häuser nicht verlassen, sagt Bodina vom IRC. Wer viele Kilometer von der Front entfernt wohne, sei sich der Gefahr noch nicht bewusst, erklärt er das Zögern. „Aber je näher die Front rückt, desto mehr Menschen fliehen.“

Manche verlassen überstürzt ihr Zuhause, haben nur einen kleinen Rucksack auf dem Rücken und Hund oder Katze unter dem Arm. Andere tragen große Koffer und versuchen, so viel wie möglich von ihrem Hab und Gut mitzunehmen, beschreibt er die Situation. „Die Menschen sind traurig, dass sie ihre Heimat verlassen mussten und jetzt nicht wissen, was die Zukunft bringt.“

Die meisten der Geflüchteten sind älteren Alters

In vielen Klassenzimmern der ehemaligen Schule stehen heute Betten. Wer das Frontgebiet nahe Kupjansk verlässt und nicht weiß, wohin er gehen soll, wird zu diesem Evakuierungszentrum geschickt. Einige der Menschen bleiben nur wenige Stunden, andere mehrere Tage. Sie erhalten Essen, ein Dach über dem Kopf und medizinische Hilfe.

Die meisten der Geflüchteten sind schon älter, sagt Bodina, denn die Jüngeren hätten bereits im vergangenen Jahr die Gegend nahe der Front verlassen. Und viele der Älteren brauchen medizinische Hilfe. „Wir bieten eine erste ärztliche Versorgung, helfen den Menschen mit Medikamenten und EKG-Geräten, kontrollieren den Blutzucker und bieten Gespräche mit Psychologen an.“

Die Helferinnen und Helfer unterstützen dabei, verlorene Dokumente bei den Behörden zu beantragen und sich als Binnenvertriebene beim Sozialamt registrieren zu lassen. Kinder erhalten psychologische Erstbetreuung. „Wir zeigen den Kindern, dass sie nicht allein sind und versuchen, ihnen irgendwie ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern“, sagt Bodina.

„Alle glauben an das ukrainische Militär“

Das Wichtigste für die Menschen sei die Frage, wo sie in der nächsten Zeit wohnen werden. Manche reisen zu Verwandten in den westlichen Teil der Ukraine weiter, andere suchen sich eine Wohnung in Charkiw oder gehen ins Ausland. Die ukrainische Regierung hat Studentenwohnheime zur Verfügung gestellt, in denen Geflüchtete vorübergehend unterkommen können.

„Was mich in den Gesprächen immer wieder beeindruckt ist, dass sie alle an das ukrainische Militär glauben“, erzählt Bodina. „Viele denken, sie werden nur zwei, drei Wochen weg sein und könnten dann zurück in ihr Haus.“ Doch niemand weiß, wie lange die Kämpfe in der Gegend noch anhalten.

Das junge Paar mit dem Baby blieb drei Tage bei Igor Bodina im Aufnahmezentrum in Charkiw. Zum Abschied bedankten sie sich bei ihm für die Unterstützung, erinnert er sich. „Ich war so glücklich, dass wir ihnen helfen konnten.“