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Kommentar

Psychologische Studie
Shoppen in Krisenzeiten – was der Einkauf derzeit über uns verrät

Ein Kommentar von
Lesezeit 5 Minuten
Menschen spazieren in der Hohe Straße in Köln.

Menschen spazieren in der Hohe Straße in Köln.

Eine Studie über den Zusammenhang von Einkaufsverhalten und Krisenbewältigung fördert sehr interessante Erkenntnisse zutage.

Wie gehen die Menschen mit der Vielzahl von Krisen um? Und wie ist aktuell die Stimmung im Land? Auf der Suche nach Antworten auf solche Fragen genügt bisweilen der Blick in den Einkaufswagen. Eine tiefenpsychologische Studie des „rheingold“-Instituts, deren Ergebnisse mit einer quantitativen Befragung abgesichert wurden, ergab überraschende Zusammenhänge zwischen Seelenhaushalt und Konsumverhalten. Als wichtigste Krisenreaktionsstrategie hat sich die Konzentration aufs Private etabliert.

93 Prozent der Deutschen beschreiben, dass sie ihr Zuhause als sicheren Rückzugsort gestalten. Gleichzeitig fokussieren sich viele (86 Prozent) auf ihre Hobbys oder Freizeitaktivitäten. Mit Shopping, dem Essen im Restaurant, dem Theaterabend oder dem Kinobesuch verschaffen sie sich unbeschwerte, sorgenfreie Momente im Alltag. Alle Menschen verfolgen jedoch noch weitere Auswege aus dem Krisenmodus. Fast die Hälfte sucht Ablenkung vor allem in der Arbeit. Diese 44 Prozent der Bevölkerung dynamisieren das Hamsterrad und haben tagtäglich so viele Aufgaben, dass sie oft nicht wissen, wo sie anfangen sollen. Dadurch geraten diese Menschen in einen Zustand besinnungsloser Betriebsamkeit.

Sie erleben sich als sehr produktiv, können dadurch Sorgen und ungelöste Probleme ausblenden. Noch weitaus verbreiteter (83 Prozent) ist allerdings die Strategie, Ordnungsversuche im Kleinen zu schaffen. Ehrenamtliche Tätigkeiten, das Mitwirken in einer Bürgerinitiative, der Gang zu einer Demo, Vereinsarbeit, aber auch die Pflege des Schrebergartens geben ihnen das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun und zumindest im eigenen Mikrokosmos dem Chaos der großen Welt zu widerstehen. Die meisten Menschen beschreiben, dass sie weniger Nachrichten schauen, weil der ständige Blick in den Krisenabgrund verstörend ist. Allerdings beschreibt die Hälfte der Menschen umgekehrt auch eine mediale Vorwärts-Verteidigung: Der permanente kurze Blick auf den Newsticker soll verhindern, dass man von neuen Hiobsbotschaften kalt erwischt wird.

43 Prozent neigen zur Untergangsdramatisierung

Dieses Sich wappnen durch Informationen folgt dem Motto: „Bevor mich etwas ereilt, weiß ich es bereits.“ Etwas weniger als die Hälfte der Bürger (43 Prozent) neigt hin und wieder auch zu einer Untergangsdramatisierung. Resigniert oder sarkastisch reden sie sich die Verhältnisse schlecht: „Es ist alles zum Verzweifeln, und ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll.“ Der Einkauf steht angesichts der zahlreichen Krisen in einem Spannungsfeld zwischen Überleben und Schöner leben.

Oft rüstet man sich auch schon für den etwaigen Ernstfall aus, hortet Klopapier, Duschgel und Badreiniger, Nudeln, Kaffee, Butter und Süßigkeiten. Auf der einen Seite achten die Konsumenten dabei genau auf die Preise, steigen auf Eigenmarken der Supermärkte und Discounter um, sammeln Coupons, gehen auf Schnäppchenjagd oder decken sich mit Sonderangeboten ein. Andererseits dient der Einkauf auch dazu, sich etwas zu gönnen und das Leben mit kleinen Genussmomente zu verschönern.

Vor allem Singles und ältere Menschen verbringen mehr Zeit beim Einkaufen als in der Vorkrisenzeit
Stephan Grünewald

Vor allem Singles und ältere Menschen verbringen mehr Zeit beim Einkaufen als in der Vorkrisenzeit. Das Shoppen ist nicht nur ein unterhaltsamer Zeitvertreib, sondern auch ein beruhigender Akt der Selbstvergewisserung. Im Supermarkt, so erscheint es ihnen, ist die Welt noch in Ordnung. Auch wenn vieles teurer geworden ist, findet man noch eine reichhaltige Auswahl von Produkten und Marken. Selbst der Discounter wirkt dann wie ein kleines Auenland, in dem man viele Lebens-Mittel zur Selbstfürsorge findet. Zudem wird man im Laden meist nett behandelt, erlebt im Gegensatz zur entzweiten und aufgebrachten Welt da draußen mitunter noch ein Gemeinschaftsgefühl unter den Einkaufenden.

Der gelegentliche Gang zum Edeka oder Rewe dient dann auch einer Status-Versicherung: Man zeigt sich und der Welt, dass man doch noch die finanzielle Potenz hat, sich etwas von den schönen Dingen des Lebens leisten zu können. Psychologisch interessant ist der Bedeutungswandel, den bestimmte Produkte und Marken im Zuge der vielen Krisen durchlaufen. Geläufige Kosmetikartikel dienen dann weniger der Körper- oder Schönheitspflege als der Stärkung der Krisen-Resilienz. Denn vielen Menschen gehen die schlechten Nachrichten und abstrusen politischen Entwicklungen buchstäblich unter die Haut. Sie fürchten, „dünnhäutig“ zu werden. Die Hautcreme soll dann die sensible Oberfläche des eigenen Ich, die persönliche Problemzone schützen und stärken: „In der heutigen Zeit ist ein dickes Fell überlebenswichtig.“

Deodorant dient im doppelten Sinne dem Selbstschutz

Auch das Deodorant dient im doppelten Sinne dem Selbstschutz. Angesichts des aufgeheizten gesellschaftlichen Klimas kommt man häufiger ins Schwitzen – oder fürchtet, selbst stinkig und aggressiv zu werden. Mit dem Deo stoppt man nicht nur seine feindlichen Ausdünstungen, sondern umgibt sich mit einem Duftkokon. Die Deospray-Dose gewinnt die Aura einer transportablen Wohlfühloase. Ein wichtiges Trostprodukt ist Eiscreme. Der Verzehr bereitet nicht nur Genuss, sondern hilft auch, einen kühlen Kopf zu behalten. Fast schwärmerisch berichten Verbraucher davon, wie toll es ist, bei einem Schokoladen-Eis am Stiel die dunkle, dicke Außenschicht mit den Zähnen zu knacken.

Das Gefühl, dem Widerständigen mit dem richtigen Biss beikommen zu können, geht über in ein oraldramaturgisches Verschmelzungserleben. Mit dem auf der Zunge und am Gaumen schmelzenden Eis lösen sich für einen Moment auch viele Probleme auf. Man versinkt für kurze Zeit in einem süßen Nirwana. Solch eine flüchtige Flucht vor der Wirklichkeit lässt sich als Ess-kapismus beschreiben. Eine kleine Renaissance erfahren auch Fix-Produkte wie Tütensuppen. Sie ermöglichen die schnelle Selbstversorgung. Lebloses Pulver verwandelt sich beim Hinzufügen von kochendem Wasser wie von Zauberhand in ein schmackhaftes Gericht.

Der heißhungrige Konsument wird mit Maggi und Co. zum Magier. Diese Verwandlungskunst im Kochtopf wünschen sich viele dann auch in anderen Bereichen der Wirklichkeit, in denen sie im Problemstau festzustecken scheinen. Ein Produkt, das hier Rettung verspricht, ist der Allesreiniger. Mit seiner Schmutzlösekraft will man zumindest das private Schneckenhaus proper halten, ja ihm sogar ein wenig Glanz verleihen. Die Studie über den Zusammenhang von Einkaufsverhalten und Krisenbewältigung wurde im Auftrag von Unilever Deutschland erstellt.


Stephan Grünewald ist Geschäftsführer des Kölner „rheingold“-Instituts für tiefenpsychologische Marktforschung. In seiner Kolumne befasst er sich aus psychologischer Sicht mit gesellschaftlich relevanten Themen.