Sinti und RomaIm Kampf gegen Antiziganismus ist der Staat weiter als die Gesellschaft
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Antiziganismus? Was ist das? Das werde ich häufig gefragt. Nicht mal die gängigen Autokorrekturen von Textverarbeitungsprogrammen kennen den Begriff. Dabei handelt es sich um die zweitälteste Form der pauschalen Abwertung einer Gruppe von Menschen in Europa nach dem Antijudaismus bzw. Antisemitismus.
In Deutschland blicken die Betroffenen auf eine Kultur-Geschichte von 600 Jahren zurück. Ebenso lang währen ihre Ausgrenzung und ihre teils gnadenlose Verfolgung. Im 20. Jahrhundert führte sie in den Holocaust, den die Menschen in ihrer Muttersprache Porajmos nennen. Noch so ein Wort, das niemand kennt.
Das liegt nicht zuletzt daran, dass selbst manche Journalistinnen und Journalisten mit dem Begriff Antiziganismus nichts anfangen können. Mehrfach musste ich schon in Interviews Aufklärungsarbeit leisten, wenn ich davon sprach. Von daher ist es wenig verwunderlich, wenn man vielfach vergeblich nach Artikeln sucht – wie am vergangenen Wochenende. Da hatte die Unabhängige Kommission Antiziganismus (UKA), 2019 vom Bundestag eingesetzt, ihr Abschlussdokument präsentiert. Im Nachgang fand ich nicht mal eine Handvoll Medienberichte dazu.
Volksgruppe mit 100.000 Angehörigen in Deutschland
Für mich ist das unverständlich, deshalb schreibe ich hier darüber. Es ist zudem unangemessen, weil umgekehrt oft und meist voreingenommen über diese Volksgruppen geschrieben wird, sobald es um Konflikte und Auseinandersetzungen geht. Nach groben Schätzungen leben um die 100 000 von ihnen hierzulande. Viele trauen sich jedoch nicht, ihre Herkunft zu benennen.
Aber um wen geht es nun eigentlich? Selbst bei der konkreten Benennung der Frauen und Männer werden immer noch viele Leser Fragezeichen im Kopf haben: Es geht um Sintize und Romnja, um Sinti und Roma, neben Dänen, Friesen und Sorben die vierte der offiziell anerkannten nationalen Minderheiten in Deutschland.
Das „Z-Wort“ sollte tabu sein
Erst, wenn ich – ausnahmsweise – eine der vielen stigmatisierenden Fremdbezeichnungen erwähne, wird auch bei den Letzten der Groschen fallen: „Zigeuner“. Das Z-Wort sollte angesichts der grauenvollen Geschichte und der nach wie vor massiven Anfeindungen von Sinti, Roma und verwandten Gruppen grundsätzlich tabu sein.
Wenn sich ein Sinto oder eine Romni selbst so bezeichnen will, ist das selbstverständlich ihr gutes Recht. Aber das kann nicht bedeuten, dass Außenstehende die Bezeichnung einfach übernehmen. Die meisten von ihnen lehnen die Bezeichnung laut dem Zentralrat der Sinti und Roma als diskriminierend ab.
Alternative Bezeichnungen
Selbst der Begriff „Antiziganismus“ wird vor diesem Hintergrund kritisiert, weil das Z-Wort auch darin steckt. Eine alternative Bezeichnung ist Antiromaismus oder Gadjé-Rassismus; „Gadjé“ bezeichnet in der Sprache Romanes Nicht-Roma, wodurch der Begriff Gadjé-Rassismus den Vorteil hat, nicht die Opfer, sondern die Urheber zu benennen.
Bis heute hat der Antiziganismus in Europa wenig an Substanz verloren. Vermutlich verweigern bei keiner anderen Gruppe so viele Mitmenschen so radikal das Gespräch und wehren jegliche Versuche ab, Verständnis aufzubringen. Zu tief haben sich Vorurteile und Abneigungen in ihr Denken eingebrannt. Viele Angehörige der Volksgruppen fügen sich daher in ihr Schicksal. Wenige hoffen überhaupt noch auf Offenheit in der Gesellschaft – ganz gleich, was sie sagen oder tun.
Bedauern erst 40 Jahre nach dem Krieg
Wenn es überhaupt eine Chance geben soll, diesen Jahrhunderte alten Ausgrenzungsmechanismus zu besiegen oder zumindest zu schwächen, muss Antiziganismus offen thematisiert werden. Zu lange wurde damit gewartet. Erst 1982, fast 40 Jahre nach dem Krieg, hat Helmut Schmidt als Bundeskanzler den Porajmos gegenüber deutschen Sinti und Roma offiziell anerkannt und bedauert. Erst 2012 wurde in Berlin eine Gedenkstätte für die Opfer eingeweiht. Und erst 2019 folgte die UKA.
Der Zentralrats-Vorsitzende Romani Rose wertet das als Fortschritt. Leider hat er Recht. Wie so oft im Kampf gegen Rassismus heutzutage ist der Staat, trotz seiner Verspätung, noch weiter als große Teile unserer Gesellschaft. Rassismus kommt inzwischen, anders als früher, weniger von oben, sondern mehr von unten. Die Erwähnung von Antiziganismus gehört daher in jedes Seminar, jeden Vortrag und jedes Gespräch über Rassismus und Diskriminierung.
Beim Reden darf es natürlich nicht bleiben. Die UKA zog wenig überraschend das Fazit: Antiziganismus stellt ein erhebliches gesamtgesellschaftliches Problem dar. Die Kommission fordert eine umfassende Strategie gegen Antiziganismus sowie effektive und nachhaltige Partizipationsstrukturen. Bund und Länder sollten Beauftragte gegen Antiziganismus berufen und eine ständige Bund-Länder-Kommission einsetzen. Und es wird eine historische Aufarbeitung des begangenen Unrechts verlangt und die Anerkennung von geflüchteten Sintize und Romnja als Angehörige einer besonders schutzwürdigen Gruppe, denn auf dem Balkan werden sie weiterhin vielfach menschenunwürdig behandelt. Diesen Forderungen kann man sich nur anschließen.