Der Psychologe Stephan Grünewald vom Kölner „rheingold“-Institut zeigt sich alarmiert über die Befunde der Trendstudie „Jugend in Deutschland“.
Kölner Psychologe zur Jugendstudie„AfD bedient den Wunsch nach Schuldzuweisung für alles Widrige“
Herr Grünewald, die Stimmung unter den jungen Menschen kippt. Dieses Ergebnis der Trendstudie „Jugend in Deutschland“ hat vorige Woche aufhorchen lassen. Die 14- bis 29-Jährigen, auch bekannt als „Generation Z“, sind erschöpft, deprimiert, sie haben Alltagssorgen, blicken ängstlich in die Zukunft – und sie driften politisch nach Rechts. Welche Erklärung haben Sie mit Ihren tiefenpsychologischen Erhebungen für diese Befunde?
Die gesellschaftlichen Erschütterungen, die mit Corona, Klimakrise und Krieg verbunden sind, treffen die junge Generation viel stärker als die Älteren. Alarmierend finde ich, in welchem Maß Stress und krankhafte Erschöpfungszustände unter Jugendlichen zugenommen haben. Sie sind wie herausgerissen aus einer stabilen Rundumversorgung und einer Bereitstellungskultur, in der sie alles vorzufinden glaubten, was sie später einmal im Leben brauchen.
Verunsicherung als neues Lebensgefühl?
Noch mehr als das. Vor Pandemie und Krieg lebte die Jugend mit dem Selbstbewusstsein, die Dinge im Griff zu haben – besser sogar als die Elterngeneration. Mit ihrem Smartphone hatten sie die Welt in der Tasche, alles stand mit einem Wisch für sie bereit: Konsum, Beziehungen, Mobilität. Diese Gewissheit einer totalen Verfügbarkeit wich in der Pandemie einem großen Ohnmachtsgefühl: Man war umgeben von einem unsichtbaren Feind, zum Nichtstun verdammt. Und selbst die Pubertätsrevolte fiel aus, weil klar war: Wer sich gegen die Corona-Regeln auflehnt, riskiert das Leben seiner Eltern und Großeltern. Zugleich erlebten die Jugendlichen in der Corona-Zeit einen immensen Bedeutungsverlust.
Inwiefern?
Jugendliche waren die ersten, die festsaßen, und die letzten, die geimpft wurden. Vor Corona bestimmten Gestalten wie Greta Thunberg oder der Youtuber Rezo als Rollenmodelle die Debatten. Dann übernahmen auf einmal Christian Drosten und Karl Lauterbach das Kommando. Jugendliche waren als Kollektiv, aber auch individuell nicht mehr gefragt. Sie erleben sich seitdem zurückgeworfen auf sich selbst. Als Beziehungs-Waisen flüchten sie in die Selbstbezüglichkeit, und sie schrauben die Ansprüche an sich selbst höher und höher, um dann umso grandioser daran zu scheitern.
Das zieht einen ganz schön runter.
Und ich bin noch nicht fertig. Jugendliche brauchen für eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung so etwas wie den Lichtstreif am Horizont, die Aussicht auf eine gute Zukunft. Die liegt jedoch angesichts von Krieg und Klimakrise in dichtem Nebel. Die Generation der Eltern kann dieses visionäre Vakuum mit einem Retrotrend füllen: Durch den Blick in den Rückspiegel können die Älteren Aufbruchs-Stimmungen der 80er oder 90er Jahre recyceln und in der Vergangenheit schwelgen.
Das können die Jugendlichen naturgemäß nicht.
Bei vielen jungen Menschen führt die gefühlte Endzeitstimmung eher zu einem Vorruhestands-Gebaren. Sie gehen auf Reisen oder nehmen mit Anfang 20 ihr erstes Sabbatical.
Aber wie passt das zur Diagnose, die Jugendlichen seien erfüllt von Alltagssorgen?
Viele Alltagssorgen, wie die Angst vor der Spaltung der Gesellschaft, gehen auf eine zentrale Grundangst von Kindern und Jugendlichen zurück: das Auseinanderbrechen ihres primären Bindungssystems, der Familie – mit desertierenden Vätern, allein erziehenden Müttern, Patchwork-Verhältnissen verschiedensten Zuschnitts. Dem versuchen Kinder und Jugendliche oft unbewusst entgegenzuwirken, indem sie selbst als Systemstabilisierer agieren: Harmonisieren ist vielen wichtiger als rebellieren. Dass Vermittlungskünste und Diplomatie auf ganzer Linie scheitern können und es unwiderruflich zum Bruch kommen kann, hat ihnen vor allem der Ukraine-Krieg – für uns in Mitteleuropa noch bis vor kurzem eine Denkunmöglichkeit – vor Augen geführt.
Warum profitiert davon die AfD, die laut Umfrage bei der jungen Generation auf Stimmanteile von mehr als 20 Prozent kommt?
Weil auch der ständige Streit in der Ampel die eben beschriebene Grundangst vor der Brüchigkeit der Bindungssysteme zusätzlich triggert.
Sie erklären den massiven Rechtsruck in der jungen Bevölkerung mit Koalitionsgezänk?
Das ist sicherlich ein Grund für den Vertrauensverlust in die Ampelparteien. Die AfD bedient aber auch den Wunsch nach Wiederkehr stabiler Verhältnisse samt eindeutiger Schuldzuweisung für alles Widrige. Die Erzählung, man müsste nur bestimmte Sündenböcke fortjagen und alles wäre wieder gut, zieht bei Jugendlichen mit ihrer Sehnsucht nach umkümmerter Unbekümmertheit.
Spielt auch die Abkehr von den Idealen der Elterngeneration eine Rolle – konkret zum Beispiel von liberalen Werten wie Toleranz, Freiheit, Gleichheit, Geschwisterlichkeit?
Solche Konstellationen eines klassischen Generationenkonflikts sind nach unseren Beobachtungen eigentlich schon länger überholt. Wenn die Grundangst von Kindern und Jugendlichen das Auseinanderbrechen der Familie ist, blasen sie die Pubertätsrebellion ab. Der Aufstand gegen die Eltern fällt aus.
Sehen Sie einen Ansatz, junge Menschen wieder aus der rechten Ecke zu holen?
Das kann gelingen, wenn man ihnen eine echte Zukunftsperspektive bietet und positive Gruppenerfahrungen, in denen sie ihre soziale Befähigung nachholen können. Ich befürworte deshalb ein soziales Pflichtjahr – als Möglichkeit, sinnvolle Selbstwirksamkeit zu erfahren und sich sozial zu vertäuen.
Angesichts von Bedrohungen wie Klimakatastrophe oder Krieg ist das mit den „echten Zukunftsperspektiven“ leicht gesagt.
Wenn es gelingt, solche unbestreitbar beängstigenden Probleme herunterzubrechen auf das persönliche Lebensumfeld, dann kann davon durchaus wieder ein Gefühl positiver Lebensbewältigung ausgehen – so wie das zum Beispiel im Umgang mit der Energiekrise 2022/23 gelungen ist. Da galt es, einen Energiekollaps durch gemeinsame Kraftanstrengungen abzuwenden. Alle konnten dazu ihren Beitrag leisten. Es braucht also weniger die große Vision als klar umrissene Aufgaben, an denen alle mitwirken können.