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Kölner Atomkraft-ExperteWas der Stromausfall in Tschernobyl für Deutschland bedeutet

Lesezeit 5 Minuten
Tschernobyl DPA 090322

Der verlassene Atomreaktor in Tschernobyl.

Das ukrainische Atomkraftwerk Tschernobyl ist seit Mittwoch laut Angaben des ukrainischen Netzbetreibers Ukrenerho von der Stromversorgung abgeschnitten. Bereits am zweiten Tag der russischen Invasion in der Ukraine hatten die Truppen von Wladimir Putin die Besetzung des havarierten Atomkraftwerks gemeldet. Nun sorgen sich ukrainische Behörden vor den weitreichenden Folgen des Stromausfalls. Die internationale Atomenergiebehörde IAEA dagegen sieht keine unmittelbare Gefahr für den Reaktor. Sven Dokter, Sprecher für die Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorssicherheit in Köln, beantwortet die wichtigsten Fragen.

Warum ist die Lage in Tschernobyl so prekär?

Nach dem Reaktorunglück 1986 in der nordukrainischen Stadt nahe des Flusses Prypjat liegt das Gebiet um das havarierte Atomkraftwerk brach, die Ukraine kümmert sich in enger Zusammenarbeit mit der IAEA um den Schutz der noch erhaltenen Einrichtungen.

Die Mitarbeitenden in Tschernobyl sorgen dafür, dass nach der Kernschmelze keine weitere radioaktive Strahlung in die Atmosphäre gelangt. Bereits unmittelbar nach der russischen Besetzung des Gebiets meldeten die ukrainischen Meldestellen für Radioaktivität leicht erhöhte Werte im Gebiet um Tschernobyl, die durch Erschütterungen während der Gefechte russischer und ukrainischer Truppen entstanden sein könnten. Viele der Meldestellen sind durch die russische Besatzung seit Tagen nicht mehr aktualisiert worden.

Welche Stellen der ukrainischen Sperrzone sind besonders betroffen?

Im Blickpunkt ist dabei insbesondere das Zwischenlager mit dem Namen „ISF-1“. Dort lagern alte Brennstäbe aus den Reaktoren in Tschernobyl in einem sogenannten Abklingbecken. Von den vier Reaktorblöcken in Tschernobyl ist der letzte im Jahr 2000 abgeschaltet worden. „Normalerweise lagern alte Brennstäbe circa fünf Jahre in den Abklingbecken, in Tschernobyl liegen einige dort schon mehr als 20 Jahre. Die Wärme, die diese Brennelemente heute noch produzieren, ist also vergleichsweise sehr gering“, sagt Sven Dokter von der deutschen Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) in Köln.

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Hinzu kommt der 1986 havarierte Reaktor vier, der seit 2018 mit einer neuen Schutzhülle, einem sogenannten Shelter, überzogen ist. Diese soll radioaktive Strahlung für rund 100 Jahre abhalten. Unter ihr liegt zudem noch der alte Sarkophag, der unmittelbar nach dem Reaktorunglück errichtet wurde. Der Schutz des havarierten Reaktors ist durch den „Shelter“ allerdings auch ohne Strom möglich.

Was verändert der Stromausfall in Tschernobyl?

Wie der staatliche Kommunikationsdienst SSSCIP am Mittwochmorgen mitteilte, musste die Hochspannungsleitung von Kiew nach Tschernobyl aufgrund von Schäden, „die durch die Besetzer entstanden sind“, abgeschaltet werden. Dadurch ist das Kraftwerk auf einen Notfallgenerator angewiesen, der Strom für 48 Stunden hat. „Hinzu kommen noch weitere mobile Notstromaggregate. Die unmittelbare Stromversorgung ist nach unserem Kenntnisstand also gewährleistet“, ergänzt GRS-Sprecher Sven Dokter.

Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba warnt davor, dass nach Abschaltung des Notstromaggregats die Sicherung des havarierten Reaktors und die Kühlung der nach wie vor hochradioaktiven Brennstäbe nicht mehr gewährleistet sei und es zum Austritt radioaktiver Strahlung kommen könne.

Der SSSCIP merkt zudem an, dass durch das Abschalten der Ventilatoren innerhalb des Reaktors das dort arbeitende Personal einer hohen radioaktiven Strahlung ausgesetzt sei.

Besonders prekär sei die Situation bei den rund 20.000 Brennstäben. Ohne Strom könnten die Pumpen im Kühlbecken diese nicht dauerhaft kühlen, durch die dadurch ansteigende Temperatur käme es zu einer Verdunstung und zum Austritt radioaktiver Stoffe in die Atmosphäre.

Die Atomenergiebehörde IAEA dagegen mildert diese Darstellung ab. Generalsekretär Rafael Grossi sprach zwar von der „Verletzung einer der wichtigsten Sicherheitspfeiler“, allerdings sehe die Behörde keine kritischen Auswirkungen auf die Sicherheit. Das Volumen des Kühlwasser im Abklingbecken der Brennstäbe reiche für die Kühlung aus, ohne das Strom benötigt werde.

Wie ist die Situation für die Mitarbeitenden?

Nicht gut. Seit der russische Übernahme der Sperrzone vor gut zwei Wochen sind die 210 Techniker und weitere lokale Sicherheitsmitarbeiter von der Außenwelt nahezu abgeschnitten. Seitdem hab es keine Schichtwechsel mehr gegeben, auch wenn das Personal mit Wasser und Nahrung versorgt werde.

Laut IAEA arbeiten normalerweise mehr als 2000 Menschen im Schichtbetrieb in der Sperrzone um Tschernobyl, um die Sicherheit des havarierten Reaktors zu gewährleisten.

Wie hoch ist die Gefahr bei einem Strahlenaustritt für Deutschland?

Sehr gering. „Selbst wenn das Zwischenlager ISF-1 in Tschernobyl langfristig ohne Strom auskommen muss, braucht es Wochen, bis das Wasser im Abklingbecken verdunstet und die Brennstäbe freiliegen würden“, erklärt Sven Dokter. Wasser hält die radioaktive Strahlung besonders gut ab, schon wenige Zentimeter reduzieren die direkte Strahlung deutlich.

„Sollten die Brennstäbe freiliegen, könnte das Personal das Zwischenlager nicht mehr betreten und Wasser müsste extern zugeführt werden. Allerdings sprechen wir auch dann nur von direkter Strahlung, die nur in unmittelbarer Nähe zum Zwischenlager besonders hoch ist“, so Dokter.

Tschernobyl DPA 090322 (2)

Das Innere des neuen sogenannten Shellters, der den havarierten Reaktors schützen soll.

Für Deutschland bestehe keine Gefahr. „Tschernobyl ist nicht zu vergleichen mit einem Atomkraftwerk im laufenden Betrieb. Die Wärmeleistung der Brennstäbe im Abklingbecken von Tschernobyl ist sehr gering, sodass selbst bei einer Trockenlegung des Beckens die Brennelemente intakt blieben und keine radioaktive Strahlung in die Atmosphäre austritt“, sagt Dokter.

Auch sei die jetzige Situation nicht mit dem Reaktorunglück von 1986 zu vergleichen. Damals habe Graphit tagelang im Reaktorkern gebrannt und es sei zu sehr hohen Temperaturen gekommen. „Durch diesen sogenannten Kamin-Effekt ist die radioaktive Strahlung weit nach oben in die Atmosphäre gelangt und konnte sich bis nach Deutschland ausbreiten.“ Sollte es selbst im havarierten Reaktor zu Aufwirbelungen von radioaktivem Staub kommen, würde dieser nicht bis nach Deutschland gelangen. „In diesem Fall hätte das lokale oder regionale Kontaminationen zur Folge“, so Dokter. (shh)