Die EU hat kaum Einfluss auf den umstrittenen Beitrittskandidaten Türkei – man ist auf Erdogan angewiesen.
TürkeiErdogans Widersacher festgenommen – Warum Europa machtlos ist

19.03.2025, Türkei, Istanbul: Menschen versammeln sich vor dem Rathaus, um gegen die Verhaftung des Istanbuler Bürgermeisters Imamoglu in Istanbul zu protestieren.
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Die Beitrittsverhandlungen der Europäischen Union mit der Türkei liegen auf Eis, dennoch erstellt die EU-Kommission jedes Jahr einen sogenannten Fortschrittsbericht. Genauer gesagt werden darin vor allem ausbleibende Fortschritte dokumentiert, was viel über den Zustand des Landes nach 22 Jahren Herrschaft von Recep Tayyip Erdogan aussagt. „Die ernsten Bedenken der EU über die anhaltende Verschlechterung der demokratischen Standards, der Rechtsstaatlichkeit, der Unabhängigkeit der Justiz und der Achtung der Grundrechte wurden nicht berücksichtigt“, hieß es im jüngsten Bericht vom vergangenen Oktober.
Zu dieser düsteren Zustandsbeschreibung passt, dass nun der Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu von der größten Oppositionspartei CHP festgenommen wurde. Der Verdacht liegt nahe, dass Erdogan, der der islamisch-konservativen AKP vorsteht, so seinen derzeit aussichtsreichsten Konkurrenten bei der nächsten Präsidentenwahl aus dem Weg räumen will.
„Putschversuch gegen unseren nächsten Präsidenten“
Dass Oppositionspolitiker in der Türkei nach fragwürdigen Prozessen hinter Gittern landen, ist nicht ungewöhnlich. So wurde beispielsweise im November 2016 der damalige Chef der pro-kurdischen HDP, Selahattin Demirtas, unter Terrorvorwürfen inhaftiert. Demirtas sitzt immer noch im Gefängnis. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat seine Inhaftierung als politisch motiviert verurteilt und seine Freilassung verlangt, was Ankara schlicht ignoriert.
Politisch motiviert ist nicht nur aus Sicht der Opposition auch die Festnahme Imamoglus. CHP-Chef Özgür Özel spricht von einem „Putschversuch gegen unseren nächsten Präsidenten“. Kurz zuvor hatte die Universität Istanbul Imamoglus Diplom aberkannt – ein Hochschulabschluss ist in der Türkei Voraussetzung für eine Präsidentschaftskandidatur. Pikant: Um Erdogans Diplom gibt es seit Jahren Kontroversen, so hat etwa die Vereinigung der Universitätsdozenten (Ünivder) die Authentizität infrage gestellt.
Justiz in der Türkei ist längst auf Linie gebracht
Imamoglu wurde schon in der Vergangenheit zum Ziel der Justiz, die Erdogan längst auf Linie gebracht hat: Ende 2022 wurde der Istanbuler Bürgermeister wegen Beleidigung von Wahlleitern zu einer Haftstrafe und einem Politikverbot verurteilt, das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Dass er nun unter Korruptions- und Terrorismusvorwürfen festgenommen wurde, ist ein weiterer Schlag für die Demokratie in der Türkei.
Politische Kontrahenten einsperren zu lassen, ist mit europäischen Werten unvereinbar. Eigentlich sollte spätestens Imamoglus Festnahme Grund genug sein, die ausgesetzten EU-Beitrittsverhandlungen mit Ankara endgültig zu stoppen. Das aber wird nicht geschehen, weil Europa vor einem Dilemma steht.
Europa braucht Erdogan
Einerseits ist der alarmierende Zustand der Demokratie in der Türkei unübersehbar. Andererseits ist Europa mehr denn je auf Erdogan angewiesen. Nach dem Wegfall der USA als zuverlässigem Partner und der wachsenden Bedrohung durch Russland brauchen die europäischen Nato-Staaten an ihrer Südostflanke die Türkei. Das Land stellt die zweitgrößte Armee in dem Verteidigungsbündnis. Die Türkei beherbergt zudem Millionen Flüchtlinge, von denen befürchtet wird, sie könnten weiter in die EU ziehen und die Länder dort destabilisieren.
So kommt es auch dieses Mal wieder zum üblichen Prozedere: EU-Mitglieder wie Deutschland kritisieren Erdogans Vorgehen, worauf dieser in der Regel mit Vorwürfen an die Adresse der Europäer reagiert. Nach verbalen Schlagabtauschen geht man wieder zum Alltag über. Letztlich ist es aber ohnehin nicht die EU, die Erdogan und seiner zunehmend autokratischen Politik das Stoppschild zeigen kann. Das können nur die türkischen Wähler – wenn Erdogan ihnen die freie Wahl lässt.