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Brutaler StellungskriegUkraine drängt auf fünf Schlüsselfaktoren vor dem Winter

Lesezeit 5 Minuten
Ukrainische Mechaniker reparieren Panzer in einer Werkstatt nahe Kiew. Die Ukraine braucht die Militärfahrzeuge, um sich gegen Russlands Invasion zu stemmen und den Stellungskrieg aufzulösen.

Ukrainische Mechaniker reparieren Panzer in einer Werkstatt nahe Kiew. Die Ukraine braucht die Militärfahrzeuge, um sich gegen Russlands Invasion zu stemmen und den Stellungskrieg aufzulösen.

Die Ukraine befürchtet, dass der Nahostkonflikt die internationale Aufmerksamkeit auf sich zieht. Dabei steht die Ukraine eine einem schweren Winter.

„Russland darf nicht unterschätzt werden“, erklärt der ukrainische Oberbefehlshaber Walerij Saluschnyj in einem Gastbeitrag für den britischen „Economist“. Darin zeichnet er ein düsteres Bild von der militärischen Lage an der Front – und Auswege für die nächsten Wochen. Trotz Militärhilfe aus dem Westen seien die Russen in verschiedenen Bereichen überlegen, etwa Waffen, Munition und dem Stören von Drohnen und Raketen.

Der erfahrene Militär skizziert fünf Schlüsselfaktoren, um aus der Pattsituation auszubrechen: Luftüberlegenheit erlangen, Minengürtel durchbrechen, Gegenfeuer verschärfen, Reservekräfte ausbilden und die elektronische Kriegsführung verbessern. Russland könne bis Jahresende die Zahl seiner Flugzeuge erhöhen, wage es aber nicht, mit ihnen in die ukrainische Todeszone mit westlicher Flugabwehr vorzudringen. Daher setze das russische Militär immer mehr auf unbemannte Drohnen für Aufklärung und Angriffe, so der 50-Jährige.

Ukraine: Seit 20 Monaten tobt der Krieg nach der russischen Invasion

Kremlchef Wladimir Putin hatte sich angeblich einen Blitzkrieg von drei Tagen vorgenommen. Nun halten die Kämpfe bereits mehr als 20 Monate an und die Ukraine ist laut Saluschnyj in einem Stellungskrieg gefangen. Dies sei ein Vorteil für Russland, das seine militärische Schlagkraft wiederherstellen und ausbauen könne. Weit über 100.000 Menschen hat der Krieg bereits das Leben gekostet. Zu den Leidtragenden des Kriegs gehören auch Millionen ukrainische Kinder.

Ukrainische Soldaten beobachten die Frontlinie bei Klischtschijiwka bei Bachmut.

Ukrainische Soldaten beobachten die Frontlinie bei Klischtschijiwka bei Bachmut.

„Kinder sind in Lebensgefahr, wenn sie in Dörfern nahe der Frontlinie oder leben oder in Städten, die Hunderte Kilometer von der Front entfernt mit Raketen beschossen werden“, sagt der ukrainische Jugenddelegierte bei den Vereinten Nationen, Kyrylo Demchenko, dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Da Schulen und Universitäten zerstört wurden, seien Kinder auch in ihrer Entwicklung benachteiligt.

Demchenko blickt wenig optimistisch auf die nächsten Monate. „Der Winter wird für unsere Männer in den Schützengräben sehr hart.“ Es gebe nur wenige Möglichkeiten, sich aufzuwärmen, und die Kämpfe würden schwieriger werden. Die meisten in der Ukraine rechnen mit einem erneuten russischen Raketenterror auf die Infrastruktur der Ukraine. „Für unsere Wirtschaft und die Gesellschaft insgesamt wird es schwierig sein, einen weiteren Winter mit Stromausfällen, ohne Internet und Mobilfunk zu verbringen“, sagt der UN-Delegierte. Aber nach dem letzten Winter seien viele Menschen diese Situation gewöhnt.

Russland hat genug Kapazitäten und Reserven für einen zermürbenden Krieg

Der Leiter des Geheimdienstzentrums der estnischen Streitkräfte, Oberst Ants Kiviselg, schätzt, dass Russland noch etwa vier Millionen Artilleriegeschosse habe. Dies sei ausreichend für die Kämpfe in den kommenden Monaten, mit „niedriger Intensität“ reiche die Munition der Russen sogar für ein ganzes Jahr. Hinzu kommt, dass Russland für Angriffe auf die ukrainische Infrastruktur immer häufiger auf billige und im eigenen Land hergestellte Drohnen setzt.

Diese Drohnen sind Beobachtern zufolge leichter als iranische Shahed-Drohnen und für die ukrainische Flugabwehr schwieriger zu erkennen und zu bekämpfen. Der US-Thinktank Institute for the Study of War (ISW) geht davon aus, dass Russland sein Arsenal an Drohnen, Raketen und GPS-gelenkte Bomben für die Angriffe im Winter erweitert und die selbstproduzierte Drohnen eine wichtige Rolle spielen werden.

Laut Saluschnyj gelinge es Russland nicht, genug Soldaten zu mobilisieren, um eine deutliche Überlegenheit der Kampfkraft auf dem Schlachtfeld zu erreichen. Einer der Gründe sei, dass die Kapazitäten für die Ausbildung und die Ausstattung der eingezogenen Kräfte der Russen nicht ausreiche. Doch auch auf ukrainischer Seite gebe es Probleme bei der Rekrutierung, räumt der Oberbefehlshaber ein: Anhaltender Luftangriffe auf Übungszentren erschwerten die Ausbildung und inzwischen nehme auch die Motivation zu Kämpfen in der Bevölkerung ab.

Ukraine befürchtet, dass Nahostkonflikt internationale Aufmerksamkeit abzieht

Unter ukrainischen Soldaten ist die Sorge groß, dass der Fokus der internationalen Aufmerksamkeit nun auf Israel liegt und die Ukraine in Vergessenheit gerät. Mehrere Soldaten, mit denen das RND sprechen konnte, bestätigten diese Befürchtung. „Unsere Partner müssen verstehen, dass wir mehr Hilfe brauchen, denn wenn die Ukraine den Krieg nicht gewinnt, wird es viele weitere Kriege in der Region geben“, sagte ein Soldat aus der Region Donezk. „Polen und andere Länder müssen dann vielleicht bald auch gegen Russland kämpfen.“

Mykola Bielieskov, Militärexperte am National Institute for Strategic Studies in Kiew, sagt, die Ukraine müsse über den Winter eine neue Strategie für die nächste Offensive entwickeln. „Wir müssen über neue Lösungen nachdenken.“ Er hält es für möglich, zukünftig mehr aus der Defensive zu operieren. „Wir schlagen eine russische Großoffensive zurück und führen dann schnell einen Gegenangriff durch, bevor die Russen eine weitere Großmobilisierung durchführen“, erläutert er ein mögliches Vorgehen.

Im letzten Winter hatten die russischen Streitkräfte eine neue Offensive gestartet und unter hohen Verlusten an Mensch und Material schließlich die Stadt Bachmut eingenommen. In diesem Winter seien die Bedingungen für eine russische Großoffensive aber laut Bielieskov nicht so günstig. „Ich erwarte keine großen Aktionen auf beiden Seiten“, sagt er mit Blick auf die kommenden Monate. Es werde zwar einen neuen Schlagabtausch geben, aber keine größeren Bewegungen an der Front. Die russischen und die ukrainischen Einheiten seien zu geschwächt und müssten sich zunächst erholen und neuformieren.

Die Neuaufstellung der ukrainischen Armee für eine Offensive im nächsten Jahr ist noch nicht offiziell bestätigt worden. Berichten zufolge sollen aber fünf neue mechanisierte Brigaden gebildet werden, die etwa 150 Kampfpanzer, 300 Schützenpanzer und 200 Artilleriesysteme benötigen. Im „Economist“ bittet Saluschnyj bereits um neue Waffen, vor allem Kampfflugzeuge und Minenräummittel. In den nächsten Wochen dürfte die Diskussion über neue Waffenlieferungen an die Ukraine nun erneut aufflammen.