Immer mehr Deutsche glauben dem russischen Narrativ, das Land sei zum Einmarsch in die Ukraine gezwungen worden. Das zeigt eine neue Studie. Besonders viel Anschluss findet russische Propaganda in Ostdeutschland.
Krieg gegen die UkraineMehr Deutsche glauben russischer Propaganda
In Querdenken-nahen Gruppen auf Telegram geht es längst nicht mehr nur um Impfungen. „Selenskyj entlarvt“, heißt es beispielsweise in einem Post einer Kölner Gruppe, „Russland hat das Recht, Nazis überall zu bestrafen (laut UN-Charta)“ etwas weiter oben. Alles in Großbuchstaben. Ergänzt mit einer abenteuerlichen Erklärung, wieso Russland als Siegesmacht des Zweiten Weltkriegs das Recht habe, in jedes besiegte Land einzumarschieren, das angeblich den Nationalsozialismus wiederbelebe. Hier eine Warnung vor dem Maskentragen, dort ein Post zum amerikanischen Q-Anon Verschwörungsmythos. Dann wieder ein Link zu einem Video des russischen Staatssenders RT über angeblichen Faschismus in der Ukraine. Je weiter die Corona-Pandemie in den Hintergrund rückt, desto populärer wird in diesen Kanälen russische Kriegspropaganda.
Vierzig Prozent der Deutschen stimmen ganz oder teilweise der Aussage zu, der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine sei eine alternativlose Reaktion Russlands auf die Provokation der NATO. Das ist das Ergebnis einer repräsentativen Studie, die das Center für Monitoring, Analyse und Strategie (CEMAS) Anfang November veröffentlichte. Im April dieses Jahres stimmten der Aussage noch 29 Prozent zu. Die Auswertung weiterer Fragen zeigt: Immer mehr Deutsche glauben russischer Propaganda.
Fast jeder Fünfte der 2200 Befragten stimmt der Aussage zu, Putin gehe gegen eine globale Elite vor, die im Hintergrund die Fäden zieht. Jeder Vierte ist zumindest teilweise dieser Auffassung. Der Aussage „Die Ukraine hat historisch keinen eigenen Gebietsanspruch und ist eigentlich Teil Russlands“ stimmten 14 Prozent der Befragten zu, 65 Prozent lehnten entschieden ab. Zum Vergleich: Im April waren es noch 74 Prozent.
Wer den Krieg verteidigt, lehnt auch oft die Corona-Impfung ab
„Die russische Propaganda hat mit dem Krieg enorm zugenommen“, sagt Andreas Zick, Professor für Konfliktforschung an der Uni Bielefeld, der in der Vergangenheit bereits mehrmals mit CEMAS zusammengearbeitet hat. Dadurch, dass Putin den Krieg nie als solchen bezeichnete, sagt Zick, habe er einige Anhänger im Verschwörungsmilieu erreicht. Verschärfend wirken auch die Krisen, die durch den Krieg verursacht wurden wie die Energiekrise, Migration und Militarisierung. „Verschwörungsmythen leben davon, dass Menschen in eine Ohnmacht und Ungewissheit getrieben werden“, sagt Zick.
Knapp jeder Vierte stimmt ganz oder zum Teil der Aussage zu, dass der Krieg in der Ukraine notwendig war, um die dortige faschistische Regierung zu beseitigen. Im April war es noch jeder Siebte. Mit acht Prozent hat sich der Anteil derjenigen verdoppelt, die denken, der Krieg diene nur der Ablenkung von der Corona-Pandemie. Weitere 12 Prozent reagierten mit „teils, teils“.
Ganz überraschend ist es nicht, dass gerade frühere Querdenken-Demonstranten heute Putins Krieg verteidigen. Schließlich haben russische Staatsmedien die Bewegung stets wohlwollend begleitet, im Gegenzug teilten Verschwörungsideologen Links zu RT. „Ständiges Erzeugen von Unruhe ist ein klarer Teil der Agenda der russischen Propaganda“, sagt Zick. „Man kann Kontrolle über Unruhe erzeugen.“ Die Studie ergab auch: Viele Befragte, die den Krieg gegen die Ukraine verteidigen, lehnen die Corona-Impfung ab. Die Forscher sehen einen deutlichen Zusammenhang zwischen der Protestbereitschaft gegen die Corona-Maßnahmen der Bundesregierung und dem Glauben an pro-russische Verschwörungserzählungen.
Neben der direkten Zustimmung zu verschwörungsideologischen Thesen nahm auch der Anteil der teils-teils Antworten zu. Eine Erkenntnis, die laut den Forschern „nicht zu unterschätzen ist“: Russische Desinformation ziele schließlich auf Verunsicherung. Sie soll Zweifel säen und Krisenlagen nutzen, um das Vertrauen in die Demokratie zugunsten der eigenen Ziele zu erschüttern.
Deutlich mehr Russlandnähe in Ostdeutschland
Die Forscher fragten alle Teilnehmer nach ihrer Parteipräferenz. Menschen, die mit den Grünen sympathisieren, glauben dem russischen Narrativ demnach am wenigsten, gefolgt von FDP-Wählern. Dagegen streitet jeder zweite AfD-Sympathisant voll und ganz ab, die Ukraine habe eigene Gebietsansprüche – nur jeder Vierte in dieser Gruppe lehnt dieses Narrativ entschieden ab. Auch bei den Linkenwählern ist die Sympathie zu Russland groß: Hier ist jeder dritte davon überzeugt, die NATO habe Russland in den Krieg gezwungen.
Wie groß diese Sympathien zu Russland sind, variiert auch stark zwischen Ost und West: Während in Westdeutschland 12 Prozent der Befragten der Ukraine eigene Gebietsansprüche komplett absprechen, sind es im Osten 24 Prozent. „Wir sehen Schnittmengen zwischen Querdenken und rechtspopulistischen Milieus in den neuen Bundesländern. Diese sind wiederum sehr russlandnah“, erklärt Zick. Die Gründe dafür sei vielschichtig: Auch nach mehr als 30 Jahren Wiedervereinigung fühlen sich noch immer viele Ostdeutsche als Bürger zweiter Klasse, so Zick. „Opfermythen sind bei Radikalisierungsprozessen sehr zentral.“ Die Nostalgie nach vergangenen Zeiten sei im Osten ebenfalls stärker, so Zick. Putins Krieg wiederum basiere ebenfalls auf dem Wunsch, den früheren Zustand der Sowjetunion wiederherzustellen.
Desinformation, schreiben die Autoren der Studie, dürfe nicht nur als Informations- oder Sicherheitsproblem verstanden werden. Sie fordern eine tiefgreifende Debatte darüber, wie der „Flut an Desinformationskampagnen“ begegnet werden kann. Und eine Strategie für den Umgang mit dem verschwörungsideologischen Milieu, das die gegenwärtige politische und gesellschaftliche Verunsicherung für seine eigenen Zwecke missbrauche. „Es ist ein Angriff auf die Demokratie als solche.“