Drohnenangriffe in Moskau, „Invasion“ auf russische Grenzregionen – der Krieg wird längst auch in Russland geführt. Doch Putin schweigt.
„Natürlich schlafe ich“Russland im „Kriegschaos“ – und Putin tut, als wäre nichts
Die russische Grenzregion Belgorod erlebte am Freitag erneut massive Angriffe von ukrainischer Seite. Russische Einwohner mussten ihre Häuser zum Teil fluchtartig verlassen. Im russischen Staatsfernsehen ist davon kaum etwas zu sehen, es zeige nur einen Bruchteil der Zerstörungen und verschweige die Wahrheit, kritisieren Betroffene.
Massive Angriffe auf russische Grenzregion beeindrucken Wladimir Putin nicht
Nach einem abgewehrten Drohnenangriff auf den Amtssitz des Präsidenten sowie dem Angriff von rund 25 Drohnen auf Moskau ist spätestens durch die Angriffe in der Grenzregion für den Kreml nicht mehr zu leugnen, dass der Krieg auch auf russischem Territorium geführt wird.
Doch Oberbefehlshaber Wladimir Putin demonstriert auch nach gut 15 Monaten Krieg Gelassenheit, tut, als geschehe nichts Weltbewegendes. „Natürlich schlafe ich“, sagte Putin bei einer Videoschalte mit Familien zum internationalen Kindertag am Donnerstag. Sechs Stunden würden ihm reichen, gab er an.
Wladimir Putin gerät in Russland wegen Kriegsführung zunehmend in die Kritik
Während der russische Präsident über seine Schlafgepflogenheiten spricht, wächst die Verärgerung auch vieler patriotisch eingestellter Russen spürbar. Für viele war der Krieg lange Zeit weit weg, inzwischen kann Putin jedoch nicht mehr die Sicherheit des eigenen Staatsgebietes gewährleisten. Russische Kinder, Frauen und Männer müssen in Belgorod sogar ihre Häuser verlassen und evakuiert werden.
„Die Angriffe in Belgorod zerstören endgültig den Mythos der Unbesiegbarkeit von Putins Militär“, sagt der Politologe Abbas Galljamow. Für viele Russen sei der Glaube an die Stärke russischer Waffen stets das wichtigste Kriegsargument gewesen. Galljamow meint, der Machtapparat verliere durch nichts so sehr an Rückhalt wie durch die Unfähigkeit, die Menschen zu schützen.
Psychologisch sei der Angriff auf Moskau „verheerend“, urteilt auch der ehemalige Bundeswehrgeneral Hans-Lothar Domröse in einem Bericht des RedaktionsNetzwerk Deutschlands (RND), „denn der Krieg tangiert jetzt die Hauptstadt, die jede Kriegspartei besonders gut zu schützen vorgibt. Das ist schon ziemlich beeindruckend.“
Wladimir Putin gibt an, alles unter Kontrolle zu haben
Wladimir Putin zeigt sich jedoch trotz der veränderten Situation gegenüber seinen Landsleuten betont unbeeindruckt. Die Lage in der Region Belgorod sei unter Kontrolle, lässt er durch seinen Sprecher Dmitri Peskow ausrichten. Die russische Armee hatte am Donnerstag hingegen noch von einer versuchten „Invasion“ ukrainischer Einheiten gesprochen.
In Russland wächst indes die Sorge. Der Duma-Abgeordnete Kartapolow sagte jüngst, die wichtigste Aufgabe bestehe darin, Panik unter der Zivilbevölkerung zu verhindern. Trotz aller Versuche, die gegnerischen Attacken kleinzureden, wächst längst die Kritik an der Kriegsführung insgesamt – auch von Prominenten. Der frühere Chef der russischen Raumfahrtbehörde Roskosmos, Dmitri Rogosin, verlangt neue Mobilmachungswellen. Die Putin-Vertrauten Ramsan Kadyrow, Anführer der Teilrepublik Tschetschenien, und der Chef der Privatarmee Wagner, Jewgeni Prigoschin, fordern eindringlich die Verhängung des Kriegsrechts, um härter durchzugreifen. Sie warnen vor einer Niederlage Russlands in dem Krieg mit zerstörerischen Folgen für das ganze Land.
Der Ultranationalist und frühere Geheimdienstoffizier Igor Girkin, genannt Strelkow, beklagt indes ein zunehmendes „Kriegschaos“ – auch mit Blick auf die Machtkämpfe etwa zwischen Prigoschin und dem Verteidigungsministerium.
Wladimir Putin schweigt und zögert
Doch Putin schweigt und zögert. Schlechte Nachrichten lässt er lieber andere überbringen – eine Taktik, die er schon während der Corona-Pandemie verfolgt hatte. Der Präsident äußert sich zu strategischen Fragen kaum noch. Die Linie des Kremls sei, auf keinen Fall in Alarmismus zu verfallen, um so Unruhe oder Panik in der Gesellschaft zu verhindern, sagt die Politologin Tatjana Stanowaja.
„Deshalb ist es besser zu schweigen“, so Stanowaja. Der Kreml kontrolliere nicht nur die Medien – und besitze damit die Deutungshoheit über Ereignisse wie die ukrainischen Angriffe. Putin setze auch weiter auf die „Geduld des russischen Volkes“, auf seine Unerschütterlichkeit und seinen Zusammenhalt.
Es sei naiv, einen Kurswechsel in Russland zu erwarten, meint Stanowaja. Putin könne auch mit einzelnen örtlichen Niederlagen leben, sagt sie. Angesichts der angekündigten ukrainischen Gegenoffensive bleibt abzuwarten, ob es bei diesen bleibt. Die Armee schließe die Vorbereitungen zu einer Gegenoffensive derzeit ab, hieß es am Freitag aus Kiew. (mit dpa)