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Deserteur berichtet von ChemiewaffenRussischer Soldat flüchtet aus Putins Armee und bricht sein Schweigen

Lesezeit 4 Minuten
Ein Mann mit Schutzanzug und Gasmaske. Ein russischer Deserteur hat nun vom Einsatz von Chlorpikrin berichtet. (Archivbild)

Ein Mann mit Schutzanzug und Gasmaske. Ein russischer Deserteur hat nun vom Einsatz von Chlorpikrin berichtet. (Archivbild)

„Artjom“ kämpfte in der russischen Armee. Dann entschied er sich zu fliehen – nun berichtet er über Missstände und chemische Waffen.

Ein desertierter russischer Soldat hat über den Einsatz von chemischen Waffen in Russlands Krieg gegen die Ukraine berichtet. „Es sind antike Substanzen aus dem Ersten Weltkrieg“, erklärte der Soldat im Gespräch mit der russischen Exil-Zeitung Nowaja Gaseta Europa, die bis vor kurzem von Friedensnobelpreisträger Dmitri Muratow geleitet wurde. „Hauptsächlich wird Chlorpikrin eingesetzt“, erklärte der Soldat, dessen Identität von der Zeitung aus Sicherheitsgründen geheim gehalten wird.

Bereits mehrfach hat die Ukraine im Kriegsverlauf entsprechende Vorwürfe erhoben. Belege für einen Einsatz von chemischen Waffen gab und gibt es bisher nicht. Auch die Nowaja Gaseta weist in ihrer Berichterstattung daraufhin, dass sich die Angaben des Soldaten, der im Interview „Artjom“ genannt wird, nicht unabhängig überprüft werden können.

Russischer Soldat schildert Einsatz von „antiken Substanzen aus dem ersten Weltkrieg“

Zuletzt hatte die ukrainische Armee im Sommer von einem angeblichen Einsatz chemischer Waffen auf russischer Seite berichtet. Am 6. August habe Russland Artilleriegeschosse eingesetzt, die „vermutlich Chloropikrin“ enthalten hätten, erklärte der ukrainische Armeekommandant Oleksandr Tarnawskij einem Bericht des „Kyiv Independent“ zufolge. Das Gas sei gegen ukrainische Truppen in Novodanylivka eingesetzt worden, erklärte Tarnawskij demnach. „Die Russen tun alles, um unsere Offensive zu stoppen“, hieß es weiter.

Zuvor hatte der ukrainische Grenzschutz im Mai bereits vom Einsatz „reizender Aerosole“ und „chemischer Granaten“ in der Nähe der nach wie vor heftig umkämpften Stadt Awdijiwka berichtet. Belege für ihre Behauptungen legten die ukrainischen Streitkräfte nicht vor. Der Einsatz chemischer Waffen wäre ein Verstoß gegen die Genfer Konvention, die chemische und biologische Waffen verbietet. Zuletzt berichtete die ukrainische Zeitung „New Voice“ noch in dieser Woche vom Einsatz chemischer Kampfstoffe. Auch für diesen Bericht gab es keinen Beleg.

Desertierter russischer Soldat: „Dafür möchte ich mich bei den Ukrainern entschuldigen“

„Wir sollten damit auf die ukrainischen Truppen feuern, damit sie ihre Gräben ins offene Feld verlassen müssen“, schilderte der Russe nun im Gespräch mit der Nowaja Gaseta. „Sie haben uns gesagt, dass wir auf Faschisten schießen, dass wir den Faschismus bekämpfen“, erklärte „Artjom“ weiter.

Zu desertieren sei schon länger sein Wunsch gewesen, doch solange er sich an der Front befunden habe, sei das „fast unmöglich“ gewesen, erklärte der Russe. Zunächst hätten die russischen Soldaten auch nicht gewusst, dass Russland zivile Ziele attackiert. „Das habe ich erst später verstanden“, erklärte der geflohene Soldat. „Es ist ein krimineller Krieg, der nicht existieren sollte“, sagte der Deserteur weiter. Dass er selbst ein Teil davon gewesen sei, sei ihm klar. „Dafür möchte ich mich bei den Ukrainern entschuldigen.“

Russische Soldaten schildern wiederholt Missstände in Putins Armee

„Artjom“ ist nicht der erste desertierte russische Soldat, der nach seiner Flucht über die Zustände in der russischen Armee spricht. Auch ein Hubschrauberpilot war im Sommer in die Ukraine übergelaufen – und hatte seinen Helikopter gleich mitgebracht. Zudem gibt es auch Aussagen russischer Kriegsgefangener. Sie alle schilderten erhebliche Missstände innerhalb der russischen Armee. „Die Soldaten haben viel getrunken, es gab Probleme mit Alkohol“, berichtete nun auch „Artjoms“ über die Zustände beim russischen Militär. „Die Armee hat uns mit Körperpanzerung versorgt – Helme mussten wir uns selbst kaufen.“

Bei einem Fronturlaub im September habe er sich dann schließlich zur Flucht entschieden, erklärte der Russe. „Ich hatte keine andere Wahl“, so „Artjom“, der laut der Nowaja Gaseta „Ende der 1990er Jahre in einer der Städte in Zentralrussland“ geboren worden sei. Auf beiden Seiten gebe es in diesem Krieg „große Verluste“ und viele „zerstörte Schicksale“, erklärte der Russe. Er hoffe nun, dass viele seiner ehemaligen Kameraden sein Interview anschauen werden. „Ich hoffe, sie beginnen dann, anders auf das zu schauen, was sie tun.“

Chemischer Kampfstoff: Chlorpikrin wurde bereits im Ersten Weltkrieg eingesetzt

Der angeblich eingesetzte Stoff namens Chlorpikrin gehört zur Gruppe der Lungenkampfstoffe. Im Ersten Weltkrieg kam der Stoff vor allem unter der Bezeichnung „Grünkreuz-1“ zum Einsatz. In Frankreich wurde die ölige Flüssigkeit auch „Aquinite“ genannt. In Großbritannien ist sie als „PS“ bekannt geworden.

Deutsche Soldaten mit Gasmasken im Ersten Weltkrieg im Jahr 1918. Damals kam Chlorpikrin erstmals zum Einsatz. (Archivbild)

Deutsche Soldaten mit Gasmasken im Ersten Weltkrieg im Jahr 1918. Damals kam Chlorpikrin erstmals zum Einsatz. (Archivbild)

Chlorpikrin wurde in Geschossen verschiedener deutscher Kanonen, Haubitzen und Mörsern eingesetzt. Erstmals wurde der Kampfstoff 1916 verwendet. Eingeführte hatte ihn die russische Armee, die deutschen Truppen zogen je doch schnell nach und brachten „Grünkreuz-1“ ebenfalls zum Einsatz. Der Stoff führt zu Hautblasen, Augenreizungen, Atembeschwerden und schließlich zu einem Lungenödem. Eine Chlorpikrin-Vergiftung kann zu schweren Erkrankungen und dem Tod durch Ersticken führen. Zum Schutz vor dem Stoff kommen Gasmasken zum Einsatz.

Russland will chemische Waffen zerstört haben – und wirft Ukraine ebenfalls Einsatz von Chlorpikrin vor

Russland hat auf die ukrainischen Vorwürfe bisher nie direkt reagiert. Die chemischen Kampfstoffe aus den Beständen der Sowjetunion seien jedoch ab 1996 zerstört worden, heißt es in einem Bericht der russischen staatlichen Nachrichtenagentur Ria. Im September 2017 habe Kremlchef Wladimir Putin die Vernichtung der letzten Bestände angeordnet und sei damit seinen gesetzlichen Verpflichtungen nachgekommen.

Moskau hat der Ukraine im Kriegsverlauf ebenfalls mehrfach vorgeworfen, chemische Kampfstoffe eingesetzt zu haben. Zuletzt hatte Ria im Oktober über einen angeblichen ukrainischen Angriff mit Chlorpikrin berichtet. Auch für diese Vorwürfe gibt es keine Belege.