Nach Prigoschins Tod wird oft vom „Mafia-Staat“ gesprochen. Das werde Putins gefährlicher Ideologie jedoch nicht gerecht, sagt der Kölner Politologe Thomas Jäger. Allein ist er damit nicht.
Putins gefährliche Ideologie„Faschismus-Diskussion müsste zu Russland geführt werden“
Jewgeni Prigoschins Leiche war noch nicht einmal identifiziert, da verkündeten viele westliche Medien bereits: Russland ist ein Mafia-Staat! Schließlich sei klar, dass Kremlchef Wladimir Putin hinter dem Tod des Söldnerführers stecke – ganz im Stil eines Mafiabosses habe der Kremlchef den Wagner-Chef aus Rache für Prigoschins Putsch „verschwinden lassen“. Illustrationen von Putin als „The Godfather“, dem alles beherrschenden Mafia-Paten, boten zweifelsfrei eine verlockende Optik.
Wladimir Putin treibt Russland zur „Ideologie des totalen Krieges“
Aber die sagenumwobene Mafia steht nicht bloß für organisiertes Verbrechen, sondern ist Teil der Popkultur geworden. Unzählige Filme wurden über Mafia-Legenden gedreht, die oft etwas Mysteriöses und in der filmischen Darstellung nicht ausschließlich Unsympathisches umweht.
Don Vito und Al Capone, das sind mittlerweile irgendwie auch klangvolle Namen. Bei manchen Cineasten hängt „Der Pate“ an der Wohnzimmerwand. Ist das der treffende Kontext für Wladimir Putin und das Russland, das der Kremlchef geformt hat?
„Putin mag wie ein Mafiaboss wirken, weil er kleinlich, korrupt und destruktiv ist“, sagt der britische Historiker Ian Garner. „Seine Entscheidungen und die der Eliten um ihn herum treiben die Gesellschaft in Richtung einer Ideologie des totalen Krieges – und nicht in Richtung einer mafiösen Unterwerfung.“ Russland sei kein Mafia-Staat, so Garner. „Es ist ein faschistischer Staat.“
Russland nach Jewgeni Prigoschins Tod: „Es ist ein faschistischer Staat“
Auch Jason Stanley wird deutlich. „Im Moment ist Russland explizit faschistisch und plant eine gewaltsame koloniale Territorialerweiterung“, sagte der Professor für Philosophie der US-Eliteuniversität Yale dem „Kyiv Independent“, als Prigoschin noch unter den Lebenden weilte, vermutlich aber bereits todgeweiht war.
Wie also über Russland sprechen? Und wie über Putin schreiben?
Nach Putins Machtübernahme im Jahr 2000 habe „Mafia-Staat“ noch gut zur Beschreibung der systematischen Bereicherung Putins und seines Machtzirkels gepasst, erklärt Thomas Jäger, Professor für Internationale Politik an der Universität zu Köln. Dieses Bild sei mittlerweile aber „immer mehr verblasst“, sagt Jäger im Gespräch mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“.
Spätestens ab 2010, zehn Jahre nach Putins Amtsantritt, habe nicht mehr die „Ausbeutung des Staates“, sondern die Entwicklung „erst autoritärer und dann faschistischer Strukturen“ für den Kremlchef im Vordergrund gestanden. „Auf die organisierte Kriminalität kam Ideologie obendrauf.“
Wladimir Putins Herrschaft in Russland: „Jetzt ist er Zar und Gott“
„Das politische System wurde immer stärker auf eine Person zugeschnitten, das ist ein wichtiges Moment des Faschismus.“ Mit den russischen Kriegen – der Überfall auf die Ukraine ist nicht Putins erster – sei der Kremlchef schließlich noch mehr zu dem „Anführer“ geworden, der ein zentrales Merkmal des Faschismus ist.
„Jetzt ist er Zar und Gott, den wir anbeten und fürchten sollen“, beschrieb Anna Politkowskaja einst das neue Selbstbild des Kremlchefs. 2006 wurde die russische Journalistin vor ihrer Wohnung in Moskau erschossen. Es war der 7. Oktober, Wladimir Putins Geburtstag.
Wladimir Putin und die „Russki Mir“
Als Ideologie sei schließlich die Idee von der „Russischen Welt“ hinzugekommen, also „völkischer Ultranationalismus, der darin besteht, sich selbst zu überhöhen und andere abzuwerten“, sagt Politikwissenschaftler Jäger.
Putin nutzt den Begriff der „Russki Mir“ seit 2001. Die Ideologie vereint antiwestliche, antiliberale und neoimperiale Strömungen des russischen Denkens. Bereits in der Vergangenheit diente sie dem Kreml als Rechtfertigung für Kriege – und 2014 auch für die Besetzung der Krim.
Während „Landsleute“, ob innerhalb oder außerhalb Russlands, von Mütterchen Russland geschützt werden müssen, so die Denke, wird alles andere abgewertet. Der Westen, das Baltikum und die Ukraine sowieso.
Russische Ideologen wollen „das ukrainische Problem durch Völkermord lösen“
Bereits 1997 forderte der rechtsradikale russische Philosoph Alexander Dugin die „Lösung des Ukraineproblems“ und nutzte damit eine Formulierung, die uns hierzulande bekannt vorkommen dürfte. In Russland hat man schon lange kein großes Geheimnis mehr um die eigenen Völkermordfantasien und imperialen Ansprüche gemacht. In Deutschland hat man das nur sehr gerne überhört, solange der Rubel rollte. Bis zum 24. Februar 2022.
Noch deutlicher wurde der russische Faschismus kurz nach dem Massaker von Butscha, als „Ria Novosti“ einen Artikel des russischen Ideologen Timofey Sergeytsev veröffentlichte. „Was Russland mit der Ukraine tun sollte“, war die Hassschrift betitelt, in der Sergeytsev – wohlgemerkt bei einer staatlichen Nachrichtenagentur veröffentlicht – explizit vorschlug, „das ukrainische Problem durch Völkermord zu lösen“.
„Diese Worte spiegeln die Denke im Kreml wider“, erklärte damals Samuel Ramani, Russland-Experte an der Universität Oxford. Der amerikanische Historiker und Holocaustforscher Timothy D. Snyder nannte Sergeytsevs Aufsatz gar eine „Anleitung zum Genozid“.
Wie Putin in Russland einen faschistischen Staat errichtet
„Es sind nur wenige Merkmale, die zu einem ausgewachsenen faschistischen Staat fehlen“, sagt auch Thomas Jäger. Eigentlich fehle dafür nur eine die „Gesellschaft umfassende Massenbewegung“, so der Politologe. „Die Begeisterung für den Krieg, das suggerieren die Berichte, ist noch nicht so groß“, erklärt der Professor. „Ich sage bewusst noch nicht, denn Russland ist auf dem Weg dahin.“
Zuvor habe der Kreml mehr Wert daraufgelegt, das Volk ruhig zu stellen, als es zu mobilisieren, so Jäger. Nun würden „Erziehungsprogramme“ in Russland „umgelegt“, schildert Jäger den fortschreitenden Umbau zum faschistischen Staat. „Kindererziehung“ und „Schulerziehung“ seien jetzt darauf ausgerichtet, die bisher ausgebliebene gesamtgesellschaftliche Massenbewegung herbeizuführen.
„Wer die Kommunikation kontrolliert, dem gehört das Land“
Tatsächlich werden russische Kinder und Jugendliche zunehmend auf Krieg getrimmt. Grundschüler werden von der russischen Armee umgarnt, Oberschüler sollen als Drohnenpiloten ausgebildet werden und bei Propaganda-Paraden werden Kinder als Träger des „Z“ benutzt. Auch darüber informieren die staatlichen russischen Nachrichtenagenturen.
„Wer die Kommunikation kontrolliert, dem gehört das Land“, wusste 1973 bereits der italienische Professor und Bestseller-Autor Umberto Eco. Und die kontrolliert in Russland ganz offensichtlich Wladimir Putin.
Das „Z“ ist von Moskau zum Symbol für den Schrecken des Krieges und des russischen Faschismus gemacht worden. Mancher nennt es bereits „Zwastika“ – in Parallele zu „Swastika“, dem englischen Begriff für Hakenkreuz.
Russischer Faschismus: „Das, was der Kreml selbst ist, projiziert er auf andere“
Außerhalb Deutschlands hat sich seit Kriegsbeginn der Begriff „Ruscism“ („Raschismus“) etabliert. Ein Kofferwort aus „Russia“ und „Fascism“, das auch die „eigentümlichen Volten“ des russischen Faschismus abbilden soll, wie Thomas Jäger es formuliert.
„Die Ausgabe des Ziels, die Denazifizierung der Ukraine zu erreichen, dreht ja den Spiegel um“, erklärt Jäger. „Das, was der Kreml selbst ist, projiziert er auf andere und erklärt die zum eigentlichen Feind.“ Zusammen mit „Gayropa“, also dem progressiven Westen mit all seinen liberalen und bunten Facetten, bilde die Behauptung von „Nazis in der Ukraine“ eine besondere „Melange an Feindbildern“.
Trotz allem spricht man gerade in Deutschland oftmals lieber von russischen Verbrechern als von Faschisten im Kreml. „Die Faschismus-Diskussion haben wir uns für die AfD aufgehoben“, sagt Jäger. „Sie müsste auch zu Russland geführt werden.“
Warum nimmt das Wort dann hierzulande kaum jemand in den Mund?
„Mit Kriminellen kann man vielleicht noch verhandeln, mit Faschisten aber nicht“, sagt Jäger. Und auch die in Deutschland ganz besonders vorhandene – und aus Moskau mit wilden Warnungen vor dem Dritten Weltkrieg befeuerte – Angst vor der großen Eskalation spiele eine Rolle, erklärt der Politikwissenschaftler.
Noch in dieser Woche erklärte der ehemalige russische Präsident Dmitri Medwedew, Russland habe „das Recht auf Krieg“ mit „jedem einzelnen“ Nato-Land. In Deutschland entfalten derartige Botschaften ihre Wirkung.
Der einzige Grund sei das aber nicht, sagt Jäger. In Berlin und der Öffentlichkeit spreche man „vermutlich aus dem Grund nicht von Faschismus, weil das Vorhaben, mal wieder mit Putin zu telefonieren, sonst völlig irrwitzig wird.“ Auch über Taurus-Lieferungen an Kiew könnte man dann nicht mehr diskutieren, sagt Jäger. Würde man den russischen Faschismus beim Namen nennen, müsste man die Marschflugkörper schlichtweg sofort liefern, und zwar ohne Einschränkungen.
Umberto Eco, der bereits früh den zukünftigen Weg zur faschistischen Machtübernahme beschrieb und durch Putin bestätigt wurde, hatte derweil auch eine Methode, um Faschismus zu erkennen. 1995 veröffentlichte der Bestseller-Autor, der in seiner Kindheit die Herrschaft Benito Mussolinis erlebt hat, eine Liste mit 14 Merkmalen des Ur-Faschismus. Jedes einzelne davon sei in Russland erfüllt, sagt Thomas Jäger.