Aus Russland kommen immer neue Rufe nach Verhandlungen und auch der Westen erhöht mit Forderungen nach Gesprächen den Druck auf Präsident Selenskyj. Experten warnen aber vor Hoffnungen.
Ukraine-KriegRusslands Rufe nach Verhandlungen: Echte Chance oder bitterböse Gefahr?
Nach den immer neuen Rufen aus Russland nach Verhandlungen mit der Ukraine hat Kiew die „bizarren“ Überredungsversuche des Westens kritisiert. Der Präsidentenberater Mykhaylo Podolyak sagte der Nachrichtenagentur AFP, es sei bizarr, angesichts der militärischen Erfolge der ukrainischen Streitkräfte von der Regierung in Kiew Verhandlungen mit Russland zu fordern. Zuvor hatten auch westliche Diplomaten für Verhandlungen und eine diplomatische Lösung plädiert, auch US-Generalstabschef Mark Milley.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte kürzlich in einem Interview mit dem tschechischen Fernsehen bestätigt, dass einige Länder versuchen, ihn zu Verhandlungen und einem Kompromiss mit Russland zu drängen. „Ich werde mich nicht unter Druck setzen, so etwas haben wir schon einmal erlebt“, wies Selenskyj die Forderungen zurück. Er wisse aus den vergangenen Jahren, was ein solcher Kompromiss wert sei, und seiner Meinung nach sei es besser, von Russland „nichts Gutes“ zu erwarten.
Experte: Westlicher Wunsch nach Zugeständnissen „naiv“
„Die Forderungen aus dem Westen nach Verhandlungen erhöhen den Druck auf Präsident Selenskyj, der auf die militärische, ökonomische und politische Unterstützung des Westens angewiesen ist“, analysiert Andreas Umland vom Stockholm Centre for Eastern European Studies. Aus seiner Sicht ist der westliche Wunsch nach Verhandlungen und Zugeständnissen „naiv“, wie er dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) sagt, und hätte wohl einen Bürgerkrieg in der Ukraine zur Folge.
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Der Grund: „Ein großer Teil der Bevölkerung hat unter dem Krieg so gelitten, dass er nicht bereit ist, Russland Konzessionen zu machen.“ Nach der enormen Zerstörung und dem vielen Leid der vergangenen Monate sei es unmöglich, Russland einen Teil der Ukraine zu überlassen.
Dass Verhandlungen überhaupt das Potenzial haben, den Krieg gegen die Ukraine zu beenden, glaubt Frederick W. Kagan nicht. Der ehemalige Professor für Militärgeschichte an der U.S. Military Academy in West Point geht davon aus, dass Gespräche den Krieg nur pausieren können und Putin anschließend neue Angriffe befiehlt. „Putin wird nicht ruhen, bis er Kiew erobert hat“, analysiert Kagan.
Einem Waffenstillstand werde Putin niemals zustimmen, wenn dies von ihm verlangt, sich freiwillig aus den annektierten Gebieten zurückzuziehen. Erst recht nicht in dieser Phase des Krieges, meint der Experte, da jetzt russische Verstärkung eintrifft und Putin hofft, dass in den Wintermonaten die westliche Unterstützung der Ukraine zusammenbricht.
Doch selbst die Abtretung der völkerrechtswidrig annektierten Gebiete an Russland würde den Krieg laut dem Militärhistoriker nicht beenden. „Putin ist nicht in die Ukraine einmarschiert, um Territorium zu gewinnen. Er ist einmarschiert, weil er die Idee eines unabhängigen ukrainischen Staates und einer ukrainischen Ethnizität ablehnt.“ Jedes Einfrieren des Kriegs würde früher oder später zu einer erneuten russischen Invasion führen.
Minsker Abkommen brachte keinen echten Waffenstillstand
Mit den Minsker Abkommen gab es bereits den Versuch, den Konflikt in der Ostukraine einzufrieren. Einen echten Waffenstillstand gab es zwischen 2014 und 2022 aber trotzdem nie. Russische Streitkräfte führten in dieser Zeit ständig militärische Angriffe auf ukrainische Stellungen durch.
Gleichzeitig birgt ein Einfrieren die Gefahr, dass Russland in den besetzten Gebieten weiterhin Ukrainerinnen und Ukrainer foltert und tötet, ukrainische Kinder entführt und sie gewaltsam an russische Familien gibt und die ethnische Säuberungskampagne in der Ukraine fortsetzt. „Putin versucht die ukrainische Identität zu beseitigen, wo immer er kann“, warnt Kagan.
Die Ukraine hat inzwischen etwa die Hälfte des von Russland eingenommenen Gebiets zurückerobert. Dass ausgerechnet in diesen Tagen die Rufe verschiedener russischer Diplomaten nach Verhandlungen laut werden, überrascht den Osteuropa- und Russland-Experten Alexander Dubowy nicht. „Russlands Verhandlungsangebote sind der Versuch Putins, möglichst günstig aus dem Krieg in der Ukraine auszusteigen“, sagt er im Gespräch mit dem RND.
Aktuell stehe die militärische Niederlage Russlands noch nicht fest und der Kreml wolle in Verhandlungen seine Gebietsgewinne absichern. „Im Grunde genommen möchte Russland einen Diktatfrieden erzwingen, bei dem die Ukraine alle russischen Forderungen akzeptiert sowie der Abtretung der von Russland quasi annektierten Gebiete zustimmt.“ Für die Ukraine ist das undenkbar.
Ein Zurück zum Zustand vom 24. Februar 2022 ist für Putin aber nicht möglich, so Militärhistoriker Kagan. Angesichts von mehr als 100.000 toten und verletzten Russen und neun Monaten wirtschaftlicher Verwüstung sei dies für den Kremlchef keine Option.