Sie verlieren Eltern, Heimat und Identität – die Verschleppung ukrainischer Kinder nach Russland erfüllt laut UN die Kriterien eines Kriegsverbrechens.
„Die Kinder werden merken, dass sie belogen werden“Welche Folgen die Verschleppung nach Russland für ukrainische Kinder hat
Die ukrainische Regierung geht davon aus, dass seit Kriegsbeginn mehr als 16.000 Kinder nach Russland und in russisch besetzte Gebiete verschleppt wurden. Laut einer Yale-Studie sind mindestens 6000 von ihnen in 43 Lagern untergebracht, wo sie pro-russisch und militärisch umerzogen werden.
Ein UN-Kommission erklärte vergangene Woche, ihr lägen Beweise für Hunderte solcher Fälle vor. Kinder und Eltern seien immer wieder daran gehindert worden, Kontakt zueinander zu bekommen. Das seien Kriegsverbrechen. Der Internationale Strafgerichtshof hat deshalb den Haftbefehl gegen Putin und seine Kinderrechtskommissarin Maria Lwowa-Belowa ausgesprochen. Beiden wird vorgeworfen, für die teils gewaltsame Verschleppung ukrainischer Kinder nach Russland verantwortlich zu sein.
Die Kinder stammen laut der Yale-Studie größtenteils aus sozialen Einrichtungen in der Donbass-Region, also den Regionen Luhansk und Donezk. Aber auch Kinder aus den Regionen Cherson und Saporischschja sind betroffen. Zum Alter der Verschleppten gibt es keine genaue Angabe. Aus der Yale-Studie geht nur hervor, dass bereits Säuglinge ab einem Alter von vier Monaten in den Lagern untergebracht werden. Die ältesten Kinder seien 17 Jahre alt.
Viele Kinder werden mit Langzeitfolgen kämpfen
Viele von ihnen kommen aus Waisenhäusern. Laut ukrainische Berichte verschleppt Russland auch Kinder, bei denen keine Informationen zum Verbleib der Eltern vorliegen. Die Kinderrechtsbeauftragte Lwowa-Belowa bestätigte, dass dies etwa im Fall von 30 Kindern aus Mariupol der Fall war. Somit ist es gut möglich, dass sich auch Kriegswaisen unter den Verschleppten befinden.
Ganz genau sagen, welche Konsequenzen die Deportation nach Russland für die mentale Gesundheit der Kinder hat, lässt sich noch nicht. Doch die Münchener Diplom-Psychologin Cornelia Lohmeier ist sich sicher, dass viele mit Langzeitfolgen kämpfen werden. „Wenn die Kinder von ihren Eltern getrennt und in ein anderes Land verschleppt werden, wo sie vielleicht noch nicht einmal die Sprache verstehen, dann kann das zu einem Trauma führen“, sagt Lohmeier. Die Trennung von den Eltern werde in der Regel als traumatisch erlebt - auch wenn sich die Folgen erst später einstellen würden. Ob die Verschleppung ebenfalls zu einer Traumatisierung führt, hinge laut Lohmeier auch davon ab, „wie die Kinder das Wegbringen aus dem Kriegsgebiet erleben“.
Russland inszeniert sich als Retter und nennt die Deportierung der Kinder „Evakuierung“
Immer wieder ist in russischen Videos zu sehen, wie ukrainische Kinder an Bahnhöfen oder Flughäfen mit Luftballons und Kuscheltieren empfangen werden. Russland inszeniert sich dabei als Retter und stellt die Deportation von Kindern als „Evakuierung“ dar. Wie aber denken die Kinder selbst darüber? Lohmeier vermutet, dass sich einige gegen die Umsiedlung nach Russland weigern. „Gerade die älteren Kinder werden vermutlich eher versuchen, sich zu wehren“, sagt die Expertin. „Es werden aber auch Kinder dabei sein, die den Russen erst einmal glauben und erleichtert sind, dass sie aus dem Kriegsgebiet kommen und angeblich zur Erholung untergebracht werden.“
Doch bei Kindern, die das Schulalter erreicht haben, dürften kritische Fragen folgen - spätestens, wenn die Unterbringung in den Lagern andauert und Antworten auf die Frage nach den leiblichen Eltern ausbleiben. „Die Kinder werden merken, dass sie belogen werden. Und das führt zu einem erheblichen Vertrauensverlust und Verunsicherung.“ Eine politische Einordnung der russischen Kriegsverbrechen könne man von Vor- und Grundschulkindern nicht erwarten. Bis Kinder die genauen Zusammenhänge verstehen, könne es Jahre dauern – und auch die politische Sozialisation spiele eine Rolle. „Jüngere Kinder spüren aber, dass mit ihnen etwas passiert, was sie nicht beeinflussen können. Da ist die Hilflosigkeit noch stärker als bei den älteren Kindern.“
Leiden jüngere Kinder mehr?
Erfahren jüngere Kinder also mehr Leid durch eine Verschleppung als Jugendliche? Laut Lohmeier ist nicht davon auszugehen. Trotz der anfänglichen Hilflosigkeit seien jüngere Kinder eher in der Lage, sich an ihr neues Leben zu gewöhnen. „Die kleineren Kinder, die sich akzeptiert, verwöhnt und beschenkt fühlen, werden sich besser einleben und versuchen, Freundschaften zu schließen und sich heimisch zu fühlen“, sagt Lohmeier. In jungen Jahren würden die Betroffenen ohnehin keine Option haben, als sich ihrem Schicksal zu fügen.
„Vielleicht haben sie bei ihren Adoptiveltern aber auch tatsächlich das Gefühl, angenommen zu sein und Vertrauenspersonen gefunden zu haben“, sagt Lohmeier. Je jünger ein Kind sei, desto besser funktioniere die Anpassung – das gehe aus Adoptionsstudien hervor. Der Grund: Die Kinder bringen einen kleineren Erfahrungshorizont mit, können das Geschehene schlechter einordnen und behalten weniger Erinnerungen.
Die Verschleppung gerät für junge Kinder dennoch nicht einfach in Vergessenheit. Die Psychologin ist sich sicher: „Es kommt unweigerlich der Tag, an dem sie fragen: Woran liegt es, dass ich mich hier so fremd fühle? Was war damals?“ Während junge, verschleppte Kinder irgendwann nach der Ursache ihres Fremdheitsgefühls und nach ihrer Herkunft suchen, bleibe bei älteren vor allem der Wunsch bestehen, die leibliche Familie wiederzufinden. „Den Kindern wird wohl entweder erzählt, dass ihre Eltern tot seien oder sie kein Interesse mehr an ihnen hätten. Aber verifizieren können sie es ja nicht – das ist ein völlig unabgeschlossenes Kapitel“, sagt Lohmeier. Grundsätzlich falle es wohl älteren Kinder schwerer, die „Adoption“ durch russische Eltern zu akzeptieren. Sie würden durch ihre größere Lebenserfahrung eher versuchen, sich zu behaupten und Widerstand zu leisten.
„Es wird einiges zurückblieben“
Doch dieser ist oft zwecklos. Auch eine Flucht scheint kaum möglich – zumal die russische Regierung die ukrainischen Kinder teils in die entlegenen Landesregionen Sibirien und Ostrussland verschleppt. Zwar sollen laut WDR-Korrespondent Tobias Dammers bereits 300 verschleppte ukrainische Kinder zu ihren Eltern zurückgekehrt sein. Viele Eltern wissen aber nicht, wo sich ihre Kinder befinden. Und selbst wenn der Aufenthaltsort bekannt ist, können es sich nicht alle leisten, ihre Kinder aus Russland abzuholen – vor allem nicht bei längeren Wegstrecken.
Wenn ältere Kinder und Jugendliche realisieren, dass es keinen Ausweg aus ihrer Situation gibt, hat dies laut Lohmeier dramatische Folgen: „Es kommt dann zu einem Einfrieren von Gefühlen und zu einer Unterwerfung.“ Je nach Alter und den Erlebnissen bei der Verschleppung sind weitere Langzeitfolgen möglich, die sich als Störungen im Erleben und Verhalten äußern: Angst- und Panikzustände, Alpträume, Konzentrationsstörungen sowie Lern- und Verhaltensauffälligkeiten, die von Aggressivität bis hin zum emotionalen Rückzug oder Überanpassung reichen. „Wie bei posttraumatischen Belastungsstörungen wird da einiges zurückbleiben“, vermutet Lohmeier. Gerade bei kleineren Kindern, die ihre Situation nicht einordnen können, seien auch psychosomatische Störungen möglich – etwa diffuse Schlafstörungen, Bauchweh und Kopfschmerzen.
Auch Säuglinge leiden
Selbst an einigen Säuglinge gehe die Verschleppung nicht spurlos vorbei. „Bei ihnen wird die eigene Erinnerung wahrscheinlich nicht ausreichen, um dem auf die Spur zu gehen. Was bleibt, ist das, was im Körpergedächtnis gespeichert ist.“ Wenn die Mitnahme aus der Ukraine unter gewaltsamen Umständen erfolgt, wie es aus der Yale-Studie hervorgeht, dann könnten auch die verschleppten Säuglinge unter verschiedensten Langzeitfolgen leiden.
Wie genau sich die Verschleppung auf die mentale Gesundheit der ukrainischen Kinder auswirkt, wird von Fall zu Fall unterschiedlich zu sein. Dass einige unter psychischen Langzeitfolgen leiden werden, steht aber wohl außer Frage.
Nazis ließen Hunderttausende Kinder zwangsadoptieren und „germanisieren“
In der Geschichte hat es bereits ähnliche Fälle gegeben, aus denen sich möglicherweise Parallelen ziehen lassen – etwa zu Zeiten des Zweiten Weltkriegs. Die Nazis ließen damals Hunderttausende Kinder aus Nord- und Osteuropa nach Deutschland verschleppen, zwangsadoptieren und „germanisieren“, die ihrem arischen Rassebild entsprachen. Viele der „Raubkinder“ litten lebenslang unter der Entwurzelung und den damit verbundenen Traumata.
Ob den ukrainischen Kindern nun ein ähnliches Schicksal droht? Lohmeier hofft, dass dies durch eine schnelle Rückführung in die Ukraine verhindert werden kann. Wichtig sei es, mit den Kindern möglichst offen und altersgemäß erklärend umzugehen. So ermögliche man ihnen, „das körperlich und psychisch Erlebte auch verstandesmäßig verarbeiten können.“
Werden die Kinder in russischen Familien untergebracht, führe kein Weg daran vorbei, dass sie auch angelogen werden. „Ich glaube kaum, dass jemand so offen damit umgeht und sagt, das wäre eine Zwangsmaßnahme von unbekannter Dauer“, vermutet Lohmeier. Doch auch wenn sich einiges vertuschen lasse, könnten die verschleppten Kinder irgendwann auf Dokumente oder Internet-Artikel stoßen und der Wahrheit auf den Grund gehen wollen. Lohmeier ist überzeugt. dass „die Fragen niemals ganz zugeschüttet werden können.“