Ukrainerin berichtet aus Region Donezk„Ich will bleiben. Das ist mein Zuhause“
Charkiw/Donezk – Der Krieg in der Ukraine fordert unzählige Opfer. Die sozialen Medien sind voll von Menschen, die in Kellern oder U-Bahnschächten sitzen und um Hilfe bitten. Mit einer jungen Frau, die unsere Autorin vor drei Jahren in Charkiw kennengelernt hat, haben wir Kontakt aufgenommen. Die Redaktion kennt auch ihren vollen Namen, doch Anastasiia möchte nicht, dass ihr Nachname oder ihr Foto veröffentlicht wird. Das Gespräch fand über Textnachrichten statt. Ihre Informationen können weder widerlegt noch verifiziert werden.Am Donnerstagmorgen hat der Lärm von Explosionen Anastasiia und ihre Familie aus dem Schlaf gerissen. Es waren laute, mächtige Kampfgeräusche, nah genug, um sie zu wecken, fern genug, um sie nicht zu verletzen. „Letzte Nacht und heute Morgen war es ruhiger“, schreibt sie. „Wir konnten sogar schlafen.“
Anastasiia, 20 Jahre alt und Journalismus-Studentin, lebt eigentlich in Charkiw, Ukraines zweitgrößter Stadt, 40 Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Am Dienstag floh sie in ihre Heimatstadt im Verwaltungsbezirk Donezk, die noch unter ukrainischer Kontrolle steht.
Schon 2014 wurde nahe Anastasiias Elternhaus gekämpft
Anastasiia ist der Krieg nicht fremd, sie wuchs mit ihm auf. Als die Kämpfe 2014 im Donbass ausbrachen, beschossen sich die ukrainische Armee und die pro-russischen Separatisten keine 20 Kilometer von ihrem Elternhaus entfernt. Die Fenster erzitterten damals unter den Kampfgeräuschen, viele Bewohner harrten in ihren Kellern aus, Anastasiias Familie packte ihre Habseligkeiten und wartete, bereit, jeden Moment unter der Erde Schutz zu suchen. Jetzt warten sie wieder. Das Haus verlassen sie nur, um Lebensmittel zu kaufen.
Mit 17 Jahren zog Anastasiia für ihr Studium nach Charkiw. An den Krieg im Osten des Landes erinnerte damals vor allem ein Zelt vor dem Rathaus, umgeben von Sandsäcken, in dem die Armee Freiwillige für die Front rekrutierte. An einem Gebäude nahe der Universität flatterte eine ukrainische Flagge, direkt daneben die der Europäischen Union. Noch in diesem Jahr will Anastasiia ihren Bachelor-Abschluss absolvieren, eigentlich wollte sie anschließend ihren Master beginnen.
Anastasiia schickt ein Foto aus Charkiw, das eine Freundin in ihrer Instagram-Story gepostet hat: Es zeigt eine Rakete, die sich wie ein übergroßer Straßenpoller in eine Teerstraße gegraben hat. Ringsherum stehen Wohnhäuser. Die Rakete ist nicht explodiert. „Die Leute sollen sehen, dass nicht nur militärische und strategische Ziele gefährdet sind, wie Russland sagt“, schreibt Anastasiia. „Sondern auch Zivilisten.“ Sie schickt auch Fotos von Wohnhäusern aus Charkiw, aus einem steigt Rauch auf, die Fenster sind zerborsten, der Hauseingang zerstört und von Schutt und Asche bedeckt. „Ich kenne diese Teile der Stadt“, schreibt Anastasiia. „Die Fotos sind echt. Das sind Gebäude, in denen Zivilisten leben.“ Wann sie nach Charkiw zurückkehren kann, weiß Anastasiia nicht.
Anastasiia will nicht fliehen
Die Vereinten Nationen gehen davon aus, dass bis zu vier Millionen Flüchtling die Ukraine verlassen werden. Anastasiia wird vermutlich nicht unter ihnen sein. „Auf den Straßen und Brücken gibt es Kämpfe, alle Flüge wurden gecancelt“, schreibt sie. „Theoretisch könnten wir das Land nach Polen verlassen – das Problem ist nur, sicher bis zur Grenze zu kommen.“ Doch selbst wenn sie fliehen könnte, sie weiß nicht, ob ihre Familie sich dafür entscheiden würde. „Wir haben keine Verwandten in anderen Ländern, außer in Russland und auf der Krim. Es ist nirgendwo sicher. Ich glaube, wir bleiben einfach hier.“
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Anastasiia zweifelt daran, dass die derzeitigen Sanktionen gegen Russland im Krieg viel bringen. Sie seien zu schwach. „Es fällt mir gerade schwer, über Politik zu sprechen“, sagt sie. „Ich will einfach nur, dass die Welt irgendetwas tut, damit dieser Krieg beendet wird.“ Sie hält es für gut möglich, dass auch ihre Heimatstadt bald unter russischer Kontrolle ist – so sei es ja bereits in einigen südlichen Regionen geschehen. „Ich will hier weiterhin leben, egal, wie dieser Krieg ausgeht. Das ist mein Zuhause, genau wie Charkiw. Ich will, dass all diese Orte ukrainisch bleiben, ich möchte in der Ukraine leben, ich will, dass dieser Krieg endet, ohne dass die Ukraine Territorium verliert. Aber das scheint alles so unwahrscheinlich. Vor allem will ich, wie so viele von uns, wieder in Sicherheit leben.“