Frau Iwersen, Frau Spachtholz, Herr Andres – dass das Wohl von Kindern und Jugendlichen von zentraler Bedeutung für die Gesellschaft ist, wird niemand bestreiten. Was macht die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit aus?
Volker Andres: Es wird viel geredet, aber nicht entsprechend gehandelt. Das hat die Corona-Pandemie wieder ganz klar gezeigt. An Kinder wurde nicht gedacht, an Jugendliche wurde nicht gedacht. Schulen und außerschulische Bildungsorte wurden als erste geschlossen, und als letzte werden sie wieder geöffnet. Die Stadt Wuppertal hat Anfang September eine Inzidenz von über 700 bei den unter 18-Jährigen, weil es anderthalb Jahre nach Pandemie-Beginn weder einen ausreichenden Schutz in den Schulen gibt noch Betreuungskonzepte. Das ist symptomatisch für den fehlenden Fokus auf Kinder und Jugendliche in ganz vielen Politikfeldern.
Volker Andres, geb. 1989 in Neuss, wurde nach langjähriger ehrenamtlicher Tätigkeit in der Katholischen jungen Gemeinde (KjG) 2017 zum hauptamtlichen Diözesanvorsitzenden des Bundes der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ) im Erzbistum Köln gewählt. Als Dachverband von elf Jugendverbänden mit 50.000 Mitgliedern im Erzbistum vertritt der BDKJ die Interessen von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Kirche, Staat und Gesellschaft.
Karoline Iwersen, geb. 1982 in Willich, ist Diplom-Biologin. Bei der Krefelder Unternehmensberatung „brands for talents“ ist sie im Ressort Karriere und Familie tätig. In dem 2011 gegründeten „Verband kinderreicher Familien Deutschland“ (KRFD) leitet Iwersen den Arbeitskreis Mehrkindfamilie und Beruf(ung).
Cornelia Spachtholz, geb. 1967 in Hannover, ist Diplom-Kauffrau und Mutter eines erwachsenen Sohnes. Sie ist als Medien-Consultant bei einem großen Verlagshaus angestellt und berät kleine und mittlere Unternehmen. Seit März 2021 ist sie als Opfer von Gewalt im Krankenstand. Seit 2007 gehört Spachtholz dem Bundesvorstand des Verbands berufstätiger Mütter (VBM) an. Seit 2013 ist sie Vorstandsvorsitzende. Sie hat auch den 2014 ins Leben gerufenen Equal Pension Day initiiert. Darüber hinaus ist Spachtholz unter anderem Mitglied im Vorstand des Verbands Deutscher Volks- und Betriebswirte (Bezirk Nordbayern) und des Landesvorstands der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen (AsF) Bayern. (jf)
Karoline Iwersen: Wir als Verband kümmern uns speziell um die Bedürfnisse der Mehrkind-Familie…
Mit Vater, Mutter, Kindern?
Iwersen: Wer die Familie bildet, ist egal. Was für alle Familienmodelle gilt: Je mehr Kinder, desto größer die Anforderungen – angefangen beim Wohnraum über die Größe des Autos bis hin zur Vereinbarkeit von Erwerbs- und Familienarbeit.
Wo kommt da der Staat rein?
Iwersen: Klar beim Steuerrecht. Statt wie bisher mit dem Ehegattensplitting ein Paar-Modell zu privilegieren, ganz unabhängig von der Zahl der Kinder, brauchen wir eine Lösung, die Erziehung und Betreuung begünstigt. Mit einem Familiensplitting würden jedoch alle Familienmodelle – „da, wo Kinder sind“ – gleichwertig gefördert.
Cornelia Spachtholz: Nie gab es eine solche Gunst der Stunde, das Ehegatten-Splitting anzupacken, wie zurzeit: Die Pandemie lässt uns in ein Riesensteuerloch schauen. Man könnte jetzt besonders gut verdeutlichen, wer vom Ehegatten-Splitting maximal profitiert: Das kinderlose Paar mit einem möglichst gutverdienenden Partner. Das Ehegatten-Splitting ist damit ein Hemmnis für die Erwerbstätigkeit von Frauen. Auch deshalb muss es fallen, zusammen mit weiteren Fehlanreizen.
An welche Fehlanreize denken Sie?
Spachtholz: Die zeitlich unbegrenzte und nicht an Bedingungen wie Kinderbetreuung oder Pflege von Angehörigen gekoppelte beitragsfreie Mitversicherung des Ehepartners – in der Regel der Ehepartnerin - in der Krankenversicherung. Dazu kommt noch die Versicherungsfreiheit der Minijobs, die für die finanzielle Eigenständigkeit und die soziale Absicherung von Frauen in ihrem Lebensverlauf einen Riesenflurschaden angerichtet hat. Struktur schafft Kultur – und strukturelle Fehlanreize führen zu einer Kultur der Diskriminierung.
Iwersen: Wobei Minijobs schon auch eine Hilfe für den Wiedereinstieg in versicherungspflichtige Beschäftigung sein können.
Andres: Auch ein Familiensplitting kommt nur denen zugute, die Steuern zahlen. Die einkommensschwächsten Gruppen bleiben da unter dem Radar. Deswegen fordern wir als Jugendverband ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle, im ersten Schritt für Kinder und Jugendliche, damit elementare Förderung nicht von vornherein an mangelnden finanziellen Ressourcen scheitert.
Spachtholz: Erziehungszeiten müssen auf die Rente angerechnet werden. Ein Karriereknick für Eltern im Beruf muss ausgeschlossen sein.
Was ist mit Instrumenten, die Familien nach der Geburt von Kindern helfen sollen – der Elternzeit zum Beispiel?
Spachtholz: Noch immer ermuntern zu wenige Unternehmen werdende Väter, nicht nur die Partnerschaftsmonate zu nehmen, sondern die Elternzeit hälftig zu teilen.
Iwersen: Das liegt nicht nur an den Unternehmen. Das eigentliche Problem liegt bei den werdenden Müttern und Vätern: Wenn die sich ihre Rolle nicht schon vor der Geburt ihres Kinds bewusst machen, dann ist die Gefahr groß, dass sie im emotionalen Überschwang der Geburt mit vollem Tempo und unter vielfältigem – auch innerem - Druck in alte Rollenmuster hineinrutschen. Wichtig sind also eine klare Sensibilisierung und feste Verabredungen schon vor der Geburt, insbesondere für die Frauen: Wie möchte ich meine Rolle als Frau und Mutter in einer Partnerschaft gestalten – eben auch im Hinblick auf die weitere Karriere? Andernfalls können die Unternehmen noch so viele Angebote machen – die werden dann nicht angenommen.
Spachtholz: Ich habe viele aktive Väter kennengelernt. Motiviert sind die schon. Aber sie brauchen auch eine Ermutigung. Frauen mit Kindern haben das Karriere-Einstiegshemmnis, Männer eher das Karriere-Einbußehemmnis. Mit einer Quote für Gender-Topsharing, gemischten Teams auf allen Ebenen, könnten auch Männer zeitweilig kürzer- oder ein, zwei Schritte zurücktreten, ohne dass es ihnen schadet, zumal mit einem Rückkehrrecht von Teilzeit auf den vorherigen Beschäftigungsumfang.
Iwersen: Aber haben Männer denn noch ein Image-Problem, wenn sie in Elternzeit, also vor allem in die Partnermonate, gehen? Die bekommen doch quasi noch ein Sternchen mehr auf die Schulterklappe: nicht nur ein guter Manager, sondern auch noch ein guter Vater. Wie cool!
Spachtholz: Wenn sie mehr als die Partnermonate nehmen, ändert sich das nach unserer Erfahrung sehr schnell. Und es kommt auf die Branchen sowie die Unternehmensgröße an.
Iwersen: Je kleiner die Betriebe, umso schwieriger. Das stimmt.
Spachtholz: Vaterschaft muss für ein Unternehmen das gleiche unternehmerische Risiko bedeuten wie Mutterschaft. Deshalb fordern wir Kündigungsschutz für Väter ab dem vierten Schwangerschaftsmonat. Und eine Karenzzeit ab der Geburt. Es ist ja für alle Beteiligten schwierig, wenn der junge Vater aus dem Kreißsaal anruft und sagt, „so, ab jetzt brauche ich dann mal frei“. Wir brauchen über das Mutterschutzgesetz hinaus ein umfassendes Elternschutzgesetz.
Müsste die Elternzeit ausgeweitet werden?
Spachtholz: Sie müsste zumindest für die volle Ausschöpfung des Elterngelds hälftig aufgeteilt sein.
Iwersen: Da halten wir Wahlfreiheit für den besseren Ansatz. Wenn man frühzeitig Rollen definiert, schafft man sich ein Modell für die eigene Familie. Wenn Frauen heute ein Jahr Elternzeit nehmen, beobachten wir keinen gravierenden Karriereknick. Gleiches gilt für Väter, die mehr als zwei Monate Elternzeit nehmen. Das bessert sich zusehends.
Spachtholz: Bei Führungskräften in Top-Positionen vielleicht. Viele andere bleiben auf der Strecke.
Iwersen: Die Familienphase insgesamt braucht gesellschaftlich eine positive Bewertung, weg von diesem Negativ-Touch. Dann bekommen Frauen auch früher Kinder, statt den Zeitpunkt für die Geburt des ersten Kindes immer weiter nach hinten zu verschieben. Der Gedanke an drei oder mehr Kinder erübrigt sich, wenn die Frau ihr erstes erst mit 41 bekommt. Wenn ich als Frau weiß, ich erleide keinen Karriereknick, traue ich mich eher. Wenn ich steuerliche Vergünstigungen habe, brauche ich mich auch da nicht zu sorgen.
Lassen Sie uns Familiensituationen einmal für die Fälle betrachten, in denen die Eltern sich trennen.
Spachtholz: Wir reden hier über etwa 200.000 Trennungs- und Scheidungskinder jährlich.
Wie sollte der Staat sich hierzu verhalten, etwa im Sorgerecht?
Iwersen: Es muss dem Staat um das Wohl der Kinder gehen und dabei muss er auf individuelle Lösungen setzen. Ich bin deshalb zurückhaltend, das Wechselmodell pauschal zur besten Lösung zu erklären, nach dem die Kinder sich zu gleichen Teilen bei den Eltern aufhalten.
Spachtholz: Schon das Wort ist falsch. Es müsste „doppelte Residenz“ heißen.
Warum?
Spachtholz: Weil der Begriff „Wechselmodell“ ein ständiges Hin und Her suggeriert, das beim Modell eines erweiterten Umgangs faktisch weitaus größer und belastender sein kann. Mit sehr einfachen Mitteln ließe sich im Melderecht schon viel erreichen: Dass Kinder nämlich einen gleichberechtigten Wohnsitz bei beiden Elternteilen haben – ein doppeltes Zuhause, für das es dann auch steuerliche Erleichterungen geben müsste, analog zur Einrichtung eines Arbeitszimmers.
Andres: Es sollte aber jeweils individuell auf die Bedürfnisse der Kinder geschaut werden. Einen Regelfall kann es nicht geben.
Spachtholz: Faktisch gibt es ihn aber sehr wohl. In der überwiegenden Zahl der Fälle bleibt das Kind bei der Mutter. Im Steuerrecht und in der Statistik haben wir eine gewaltige Zahl an „Alleinerziehenden“. Darüber habe ich mich mal auf Twitter mit dem Statistischen Bundesamt gefetzt und gefragt: „Woher nehmen Sie denn Ihre Zahlen?“ Natürlich aus dem Meldewesen: Für die Statistik ist hier maßgeblich, bei wem das Kind gemeldet ist. Aber was ist dann mit der Betreuungsleistung beider Elternteile? Das sei aus verschiedenen Gründen nicht zu erheben. Nur: Wenn das so ist, müsste wenigstens die Begrifflichkeit sauber sein mit der Rede von Allein- und Getrennterziehenden.
Iwersen: Ich halte einen „Anwalt des Kindes“ in Sorgerechtsstreitigkeiten für eine sehr gute Sache. Er sollte ein „must have“ in allen Verfahren sein und dafür sorgen, dass sich die Paarebene der Eltern mit allen denkbaren Beziehungskonflikten der Kindesebene so weit wie nur möglich unterordnet.
Andres: Diesen Gedanken müsste man schon viel früher konkretisieren – etwa in der Begleitung durch die Jugendämter.
Iwersen: Nach der Trennung eines Paares führt der erste Weg ja nicht gleich zum Jugendamt. Der Schritt, das Jugendamt einzuschalten, ist schon ein Krisenindikator – und ab diesem Moment bräuchte es tatsächlich eine Instanz, die hier zugunsten des Kindes spricht.
Spachtholz: Bis die Konflikte vor Gericht landen, haben Kinder oftmals bereits Jahre überwiegend bei der Mutter verbracht, die es ein gutes Stück in der Hand hat, wann und wie das Kind den anderen Elternteil – in der Regel den Vater – sehen kann. Wir fordern die individuelle Entscheidung anhand eines Katalogs von Kriterien, zu denen die Qualifikation, das Erwerbseinkommen oder die Wohnortnähe gehört. Und als Leitbild ist die doppelte Residenz eben doch hilfreich. Wenn jedes Elternteil weiß, es ist gleichermaßen gefordert, auch im Trennungsfall, fallen viele Entscheidungen von vornherein anders.
Frau Iwersen, Sie plädierten eben für mehr Sensibilität bei der Rollen-Definition und -Verteilung in Paar- und Familienkonstellationen. Aber mit Psychologie allein werden Sie die Dinge kaum ändern, oder?
Iwersen: Nein. Der entscheidende Hebel ist die Bildung.
Spachtholz: Zustimmung! Bildung von Anfang an – und dann setzten auch Berufsberatung und -orientierung Eckpfeiler.
Iwersen: Aber wir müssen das cool machen.
Cool?
Iwersen: Klassische Aufklärungskurse zu Rollenbildern in den Schulen oder Hochschulen – da liegen alle schlafend unter den Tischen. Wir machen gute Erfahrungen mit Angeboten wie Anti-Bias-Seminaren. Da lassen wir die Schülerinnen und Schüler zum Beispiel das Bild eines typischen Software-Entwicklers zeichnen. Ergebnis: Es ist immer ein Mann… Total aufschlussreich!
Nochmal zurück zur Politik für Familien und Kinder…
Spachtholz: Da fordern wir einen rhythmisierten gebundenen Ganztagsunterricht – schulform-übergreifend, flächendeckend, deutschlandweit, mit einem Rechtsanspruch über das 14. Lebensjahr hinaus.
Iwersen: Aber nicht unter den heutigen Betreuungsbedingungen! An allen Ecken und Enden fehlt doch das Lehr- und Betreuungspersonal. Uns erreichen ganz viele Rückmeldungen mit dem Tenor: „Ich hätte mein Kind ja gern in den Ganztag gegeben. Aber was ich erlebe… Da nehme ich mein Kind lieber wieder raus.“ Außerdem stößt der Ganztag auf den Anspruch der Eltern, die Zeit mit ihren Kindern selbstständig zu gestalten.
Spachtholz: Aber ohne solche Formen treiben wir noch mehr in die soziale Segregation, geben die soziale Mischung auf.
Andres: Ein starres Korsett für alle kann es doch auch nicht sein. Ich war in meiner Schulzeit jeden Tag froh, wenn ich aus dem Schulgebäude raus war und nachmittags andere Sachen machen konnte. Wenn man Bildung eng führt auf den Lernort Schule…
Spachtholz: Den Lern- und Lebensort Schule, natürlich mit hohen Anforderungen vor allem an die Qualität!
Andres: Auch dann geraten außerschulische Bildungsorte leicht aus dem Blick. Wir bieten als Jugendverbände Lernorte für die Entfaltung und Entwicklung der Persönlichkeit, die für jeden erschwinglich sind.
Iwersen: Der Ausbau von Bildung und Betreuung als „Wünsch dir was“ ist super. Aber in der Realität bewegen wir uns immer weiter davon weg. Uns berichten Mütter, sie könnten ihr Kind beim besten Willen nicht mehr in die Kita geben, weil überhaupt nur eine Erzieherin da ist – als Notbesetzung. Das sind ganz schlimme Zustände.
Andres: Mit gravierenden persönlichen und gesellschaftlichen Konsequenzen. Je schwächer das soziale System, in dem ein Kind groß wird, desto gravierender sind die Folgen, wenn es nicht in eine Kita geht. Es braucht also ausreichend und frühzeitig Ressourcen, dass Kinder mit gleichen Chancen aufwachsen können – unabhängig von dem sozialen Umfeld, in das sie hineingeboren worden sind. Ob ein Kind in Chorweiler oder in Marienburg groß wird, darf keinen Unterschied machen. Da tut der Staat viel zu wenig. Ich sage wieder „Stichwort Pandemie“: Für die Rettung der Wirtschaft war Geld da, aber für Familien und Kinder?
Spachtholz: Aber vergessen Sie nicht: An „der Wirtschaft“ hängen Arbeitsplätze – und damit die Existenz von Familien!
Andres: Eine Milliarde Euro hätte gereicht für Luftfilter in allen Schulen, die es immer noch nicht überall gibt. Diese Summe ins Verhältnis gesetzt zu Hunderten Milliarden Wirtschaftsförderung, das passt einfach nicht.
Wie, glauben Sie, ließe sich das Missverhältnis verändern, das Sie beschreiben?
Andres: Mit einer anderen Kultur der Wahrnehmung von Kindern und Jugendlichen und ihren Belangen. Darum treten wir für Kinderrechte im Grundgesetz ein. Mit einem entsprechenden Artikel würden Kinder auch noch einmal anders in den Blick geraten. Das Vorhaben ist in der letzten Legislaturperiode gescheitert, weil die Koalitionsparteien sich nicht einig werden konnten und Kinder – wieder einmal – als Verhandlungsmasse hinten runtergefallen sind.
Spachtholz: Alle Grund- und Menschenrechte gelten doch auch für Kinder. Und die UN-Kinderrechtskonvention ist für Deutschland völkerrechtlich bindend.
Andres: Sie inhaltlich in die deutsche Verfassung zu übernehmen, wäre trotzdem ein Mehrwert gegenüber der Ratifizierung eines UN-Vertragswerks.
Und was mit der etwaigen Kollision von Kinder- und Elternrechten, die ja auch Verfassungsrang haben?
Andres: Ein Spagat, zugegeben. Aber Grundrechte können auch anderweitig in Konkurrenz geraten. Die Pandemie ist wieder das beste Beispiel: Es gibt ein Grundrecht auf Bildung. Und – was hat es den Kindern und Jugendlichen genutzt? Politisch macht es einen Unterschied, dass Kinder und Jugendliche nicht wählen dürfen. Zurzeit schließen wir mit den unter 18-Jährigen einen großen Teil der Gesellschaft aus. Wer eine ganze Generation nicht mit zu bedenken braucht, weil von ihrer Stimme nichts abhängt, der wird diese Generation auch nicht prioritär behandeln.
Sie wollen das Wahlalter senken?
Andres: Etliche im Bundestag vertretene Parteien haben eine solche Forderung bereits in ihren Programmen. Nicht so die CDU/CSU. Daraus lässt sich leicht schließen, dass sie ihre Stammwählerschaft anderswo ausmachen. Bei den Erstwählern ist die Union schon jetzt deutlich unterrepräsentiert. Man ahnt das wahltaktische Kalkül: Wenn noch mehr Jüngere dazukämen, würde der eigene Stimmanteil noch weiter sinken.
Iwersen: Wählen ab 16 fände ich persönlich gut, solide politische Bildung vorausgesetzt.
Andres: Wir gehen sogar noch deutlich weiter und treten für ein Wahlrecht ohne Altersgrenze ein.
Iwersen: Wie? Meine Fünfjährige soll dann auch schon wählen dürfen?
Andres: Theoretisch ja. Wenn sie das möchte, könnte sie sich registrieren lassen. Ab einem bestimmten Alter – wobei jede Grenze etwas Willkürliches hat – bestünde das Wahlrecht dann automatisch. Aktive Willensbekundung bis zu einem gewissen Alter.
Spachtholz: Ich persönlich befürworte auch das Wahlalter ab 16, lehne aber ein Wahlrecht ohne Altersgrenze ab. Das Wahlrecht ist eine Errungenschaft, die mit Verantwortung und einem gewissen Respekt zu behandeln ist. Jugendliche dürften nach Ihrem Modell die künftige Regierung wählen, aber nicht einmal einen Handyvertrag unterschreiben. Für mich passt das nicht zusammen. Und haben Sie denn keine Sorge, dass einfach die Eltern das Stimmrecht für ihr Kind ausüben?
Andres: Erstens: Die Geschäftsfähigkeit ist unabhängig vom Wahlalter zu sehen. Und zweitens: Eine Stellvertreter-Wahl wollen wir ausdrücklich nicht. Ich kenne natürlich den Einwand, Kinder seien zu unreif für eine eigenständige Entscheidung. Aber viele Kinder sind viel weiter, als wir es ihnen zutrauen. Und ein 18-Jähriger ist auch nicht bloß mit dem Geburtstag „reif für die Wahl“.